Sechs Jahre Rezession, 27,6 Prozent Arbeitslosigkei (November 2013; mehr als doppelt so hoch bei den bis zu 24-jährigen), hohe Schuldenquote trotz Schuldenschnitts und Krediten der internationalen Geldgeber, eine zugrunde gerichtete Wirtschaft, zehntausende Pleiten, aber keine Investitionen und reales Wachstum in Sicht. Dazu ringen die Griechen mit immer neuen Sparprogrammen: Haushaltskürzungen, Rentenabbau, geschrumpfte Sozialleistungen, Gehälter und Löhne bei gleichzeitig steigenden Steuern und unverändert hohem Preisniveau.
Die Sparmassnahmen treffen vor allem die Mittelschicht, fast jeder ist betroffen, und da das soziale Sicherungssystem kaum der Rede wert ist - es gibt maximal ein Jahr lang Arbeitslosenunterstützung von hoechstens 450 Euro, wovon niemand leben geschweige denn seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen kann, dazu fliegt man nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit aus der Krankenkasse -, droht der gesellschaftliche Absturz. Griechenland ist das einzige EU-Land ohne jegliche Grundsicherung. Wer noch einen Job hat, lebt in der Angst, ihn zu verlieren oder muss oft für die Hälfte des Lohns arbeiten. Die Menschen sind verunsichert und verzagt, müde vom Protestieren und der ewigen Streiks überdrüssig; sie glauben nicht mehr daran, dass sich die Lage bessert. Eine - gefährliche - Folge der Armut und sozialen Erschütterungen ist das Erstarken neofaschistischer Strömungen wie der rechtsradikalen Chrissi Avgi ("Goldene Morgenröte"), die aus der Misere Nutzen und Zustimmung zieht. Im Aufwind befindet sich auch die euroskeptische Linkspartei Syriza, die Umfragen zufolge bereits vor den Regierungsparteien Nea Dimokratia und der Pasok liegt.
In einem Land, das keine Wohlfahrtsstaatlichkeit kennt und in dem das Vertrauen in die Politik gründlich verloren gegangen ist, ist soziales Engagement wichtiger denn je. Aus dieser Not heraus hat sich 2010 eine Bürgerbewegung gegründet, die den allgemeinen Niedergang nicht mehr hinnehmen wollte. Ausgehend von Athen, griff sie auf das ganze Land über. In der Krise erwachte der in Griechenland bis dahin wenig ausgeprägte Bürgersinn; seitdem ist der Anteil derer, die gemeinnützige Arbeit leisten, rapide gestiegen und nimmt weiter zu. "Wann, wenn nicht jetzt", sagt Ioanna, eine junge Lehrerin, die gerade ihren Job verloren hat und jetzt Kindern unentgeltlich Nachhilfeunterricht erteilt, deren Eltern die Kosten dafür nicht mehr aufbringen koennen. Sie ist eine der "Atenistas", Athener Aktivisten, die sich freiwillig engagieren und ihre Stadt, die sie lieben, zu einem besseren Platz machen wollen; sie kurbeln Projekte und Initiativen auf breiter Ebene an und helfen dort, wo Hilfe gebraucht wird. Jeder bringt seine Begabung ein. Es gibt inzwischen über hundert Untergruppen, die zum Teil miteinander vernetzt sind. Viele der Freiwilligen sind arbeitslos wie Ioanna, wollen aber ihre Freizeit nutzen, um etwas Sinnvolles für ihre Stadt und die Menschen zu leisten. "Ich tu etwas für die Gesellschaft und damit auch für mich selbst; das macht mich glücklich", sagt Ioanna. Diejenigen, die Arbeit haben, treffen sich an den Wochenenden. Auch Ioanna will dabei bleiben, sollte sie wieder einen Job haben.
Ihr erster Einsatz, durch den die Atenistas von sich reden machten, war im Herbst 2010 an der Küste von Neo Faliro bei Athen, wo mehrere hundert Freiwillige den kilometerlangen Sandstrand vom liegengebliebenen Müll der Sommersaison säuberten. Eigentlich die Aufgabe der Kommune, doch auf Unterstützung durch den Staat setzt hier niemand mehr. Es folgten die Kampagnen für ein sauberes Athen. Mit Besen und Schaufeln, Farbeimern und Pinseln rücken die Freiwilligen, die sich über das Internet verständigen, zu ihren Einsatzorten aus. Die liegen in verfallenden Stadtteilen wie Metaxourgio, Viktoria und den heruntergekommenen Strassen um die Platia Vathis, die Brennpunkte der Migration geworden sind, oder in manchen Gegenden in Psirri und um die Patissionstrasse herum. Sie entfernen ausländerfeindliche Grafitti, streichen Klassenzimmer in Schulen, halten Ausschau nach brachliegenden Grundstücken, befreien sie von Müll und Dreck und machen daraus einen Spielplatz oder kleinen Park. Oft hat die Begeisterung, ihre Umgebung zu verschoenern, auch die Anwohner ergriffen - das werten die Atenistas als ihren groessten Erfolg. Sie kommen mit ihren Kindern und wollen beim Pflanzen der Bäumchen selbst mitanpacken oder beim Bemalen der tristen Hauswände, verlotterter Parkbänke und Spielgeräte. Auch aus so manchem der typischen einstoeckigen Häuser haben die Atenistas ein Schmuckkästchen gemacht. Was Begeisterung und ein bisschen Farbe doch bewirken koennen!
Aber die Atenistas schwingen nicht nur Besen und Pinsel für ein sauberes und schoeneres Athen, sie kümmern sich auch um Obdachlose, begleiten alte gebrechliche Menschen, sammeln Kleidung und verteilen Grundnahrungsmittel - Nudeln, Reis, Mehl, Zucker und Olivenoel - an Bedürftige. Doch der Mensch braucht auch geistige Anregungen. Die Atenistas (die Tourgruppe "Polis") organisieren Spaziergänge im historischen Zentrum Athens, durch das Ottonische Athen, das Jüdische Athen oder auch einen "Gang durch das schmackhafte Athen", ein Besuch traditionsreicher Konditoreien, Restaurants, Cafes, Gewürzläden und Kaffeeroestereien. Ausserdem arrangieren sie Besuche von Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen oder - vielfach auf Plätzen unter freiem Himmel - Theateraufführungen, Konzerte, regelmässige Strassenfeste und Partys, um Menschen zusammenzubringen und ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, sie aus ihrer Mutlosigkeit herauszuholen und ihnen zu zeigen, was alles moeglich ist und in welch einzigartiger Stadt sie leben.
Die Atenistas-Bewegung hat sich unter verschiedenen Namen im ganzen Land ausgebreitet: als Tessalonikistas in Thessaloniki, Patristas in Patras, Pirgistas in Pyrgos usw. In manchen Orten fungiert sie einfach als Nachbarschaftshilfe oder als Unterstützung für die Armen in der Krise. So wie der Immobilienmakler Manolis in Parikia auf der Insel Paros handeln jetzt viele: "Ich spiele an den Wochenenden in einer Band. Wir haben beschlossen, die Einnahmen regelmässig den Kindern einer Schule zu spenden, damit sie ein warmes Mittagessen bekommen." Es hat den Anschein, als sei Bewegung in die griechische Gesellschaft gekommen.
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