Griechenland hat mehr archäologische und historische Museen als jedes andere europäische Land, ein Hinweis auf sein jahrtausendealtes kulturelles Erbe. Eines davon ist das Koenig-Otto-Haus im Zentrum Athens, das offiziell den nichtssagenden Namen "Museum der Stadt Athen" trägt, wohl weil die Bayernherrschaft, die "Vavarokratia", bis heute bei den Griechen in keinem guten Ansehen steht. Kaum etwas in der Hauptstadt erinnert an den ersten Koenig von Griechenland. Lediglich die Suedbegrenzung des zentralen Sintagmaplatzes, die Odos Othon (Ottostrasse), gerade mal fünf Häuserblocks kurz und als eigenständige Strasse kaum wahrzunehmen, gedenkt seiner. Kein Denkmal ehrt ihn - und das in einem Land, in dem jedes Dorf seine Lokalhelden in pompoes-marmornen Standbildern verewigt.
Dass im Erdgeschoss des ersten Wohnsitzes Ottos ausschliesslich Ansichten zur Stadtgeschichte Athens, meist Gemälde und Drucke aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie das auf dem Entwurf von Eduard Schaubert und Stamatis Kleanthis basierende Stadtmodell zu sehen sind, rechtfertigt den Namen "Stadtmuseum" jedenfalls nicht. Beide Architekten, gute Freunde, hatten bei Karl Friedrich Schinkel an der Berliner Bauakademie studiert und kamen nach 1834, als Athen auf Drängen Ludwigs I. Hauptstadt des neuen griechischen Staates wurde und ein beispielloser Bauboom einsetzte, hierher, um das heruntergekommene, nur noch rund 6000 Einwohner zählende Dorf in eine präsentable Residenzstadt zu verwandeln. In den folgenden Jahren entwickelte sich Athen in eine bildschoene Stadt - mit knapp 27 000 Einwohnern 1840 -, die in schmucken klassizistischen Häusern wohnten. Das änderte sich mit der Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzenden Landflucht und den 1922 aus Kleinasien vertriebenen 1,5 Millionen Griechen ("Kleinasiatische Katastrophe"), von denen die meisten in Athen Zuflucht suchten. Athen wuchs zu schnell und unkontrolliert. Die schoene Architektur wurde ohne Not hemmungslos abgerissen und die Stadt mit hässlichen Wohnblocks ueberzogen. Und viele der Häuser, die den Kahlschlag ueberlebt haben, verfallen heute, weil kein Geld fuer eine Sanierung da ist.
Auf Otto von Wittelsbach, zweitgeborener Sohn Ludwigs I. von Bayern, den die europäischen Grossmächte England, Frankreich und Russland nach dem Ende des Befreiungskrieges vom Osmanischen Reich (1821-29) als ersten Koenig des modernen Griechenland eingesetzt hatten (mit Zustimmung der Griechischen Nationalversammlung im Juli 1832) und der es fast 30 Jahre lang, von 1833 bis 1862, regierte, weist lediglich eine kleine Tafel am Museumseingang hin, noch dazu in griechischen Lettern, die als Information für den Normaltouristen wenig hilfreich sein duerfte und wohl mit ein Grund dafür ist, dass Besucher rar sind - hoechstens 20 sollen es an guten Tagen sein, die sich in aller Ruhe den Sammlungen widmen koennen. Athen hält sich also bedeckt, und man weiss nicht unbedingt, was einen erwartet, wenn man das bescheidene einstoeckige Haus am Klafthmonosplatz betritt noch, was es einmal darstellte, nämlich die erste Residenz des jungen Monarchen in Athen.
Von Bord der britischen Fregatte "Madagaskar" betritt Otto als Siebzehnjähriger am 6. Februar 1833 in der peloponnesischen Hafenstadt Nauplia erstmals griechischen Boden, jubelnd empfangen von der Bevoelkerung, die grosse Hoffnungen in den jungen Koenig setzt. Doch die Realität konnte schlimmer nicht sein: Der minderjährige Monarch und sein dreikoepfiger Regentschaftsrat finden ein von jahrhundertelanger Fremdherrschaft und anschliessendem Buergerkrieg verwüstetes Land sowie anarchische gesellschaftliche Zustände vor. Die finanzielle Situation ist desolat, die wirtschaftliche Lage katastrophal. Der einzige florierende Wirtschaftszweig ist die Piraterie, von der ganze Inseln leben. Aus diesem Chaos ein einigermassen geordnetes Staatswesen zu formen, bedeutete eine Herkulesarbeit, die die Grossmächte wohl nur allzu gerne den Deutschen ueberliessen. Mehrfach stand das finanzschwache junge Koenigreich kurz vor dem Bankrott, auch, weil die Alliierten ihre finanziellen Zusagen nicht einhielten. Ludwig muss einspringen. Er leiht Athen fast zwei Millionen Gulden und bringt sich damit in grosse Schwierigkeiten, weil er den Bayerischen Landtag nicht eingeweiht hat und Otto die Anleihe nicht zurueckzahlen kann.
Die anfängliche Begeisterung schwindet denn auch schnell - auf beiden Seiten. "Die - ohnehin ueberhoehten - Erwartungen einer schnellen Angleichung an die 'fortgeschrittenen Länder des Westens' hatten sich nicht erfuellt." Und Otto hatte, wie wohl die meisten europäischen "Graecomanen" mit Ludwig I. an ihrer Spitze, beeinflusst vom romantisch verklärten Blick eines Winckelmann und Hoelderlin, ganz andere Griechen im Kopf. Dennoch, trotz herber Enttäuschungen blieben er wie auch sein Vater, der Muenchen zu einem Isar-Athen gestaltete, bis an ihr Lebensende ueberzeugte Philhellenen.
Obwohl Otto I. gutwillig war und die besten Absichten fuer ein "neues Hellas", den Eintritt Griechenlands in die Moderne, hatte, machte er Fehler, die nicht geeignet waren, die Barrieren zu den Griechen abzubauen. Zu lange regierte er absolutistisch. Doch der autoritäre Regierungsstil weckte anfangs auch gar keinen Widerstand, weil sich die Griechen durch einen ausländischen Koenig die Unterstuetzung der europäischen Mächte sichern wollten und auf Befriedung im Innern hofften. Erst die Revolte einer konstitutionellen Bewegung im September 1843 bahnte den Weg zur konstitutionellen Monarchie, und im Jahr darauf, im Maerz 1944, gestand der Koenig vom Balkon seines Palastes dem Volk die geforderte Verfassung zu. Seitdem heisst der Platz vor dem Schloss, dem heutigen Parlamentsgebäude, Platia Sintagmatos (Verfassungsplatz). Auf wenig Verständnis stiess auch, dass er und Amalia nicht zum griechisch-orthodoxen Glauben uebertraten. Nachteilig fuer den wackligen Thron des "katholischen Koenigs" war ferner, dass die Ehe kinderlos blieb.
Zweifellos hat Griechenland während der Herrschaft Ottos den Anschluss an Westeuropa gefunden. Die bayerischen Reformer trieben die Modernisierung des Landes voran und schufen eine effektive Verwaltung und Rechtsprechung nach bayerischem Modell, ein Militär-, Medizin- und Bildungswesen; ein auch nur halbwegs funktionierendes Steuersystem zu etablieren, speziell auf dem Lande, gelang jedoch nicht. "Trotz seiner offensichtlichen Organisationsschwäche konnte der junge griechische Staat ... die Schulpflicht im Bildungssystem sowie die Dienstpflicht fuers Militär durchsetzen und damit die ideologisch-kulturelle Homogenisierung der Gesellschaft energisch vorantreiben" konstatiert der Politikwissenschaftler Nikos Hlepas (Wuerzburg 2006). Bereits 1834 wurde das von Wilhelm von Weiler erbaute Militärhospital eroeffnet, 1837 die ("ueberdimensionierte") Ottonische Universität gegruendet, an der anfangs vornehmlich bayerische Professoren lehrten, es folgten die Griechische Nationalbank, die Akademie der Wissenschaften, das Archäologische Nationalmuseum, die Sternwarte, die Augenklinik, mehrere hundert Schulen sowie der Nationalgarten, noch heute die gruene Lunge im Zentrum Athens, das mit Gruenflächen nicht eben gesegnet ist. Einen Grossteil der Kosten trug Ludwig I. von Bayern. Otto versuchte - so Nikos Hlepas - Athen zum "gesamtgriechischen Zentrum fuer Politik, Bildung und Kultur ... zu etablieren. Diese Stadt symbolisierte ferner die erfolgreiche Einverleibung der zunehmend populären Antike in die nationale Identität." Dass die Akropolis erhalten blieb und restauriert wurde - unter Leitung des deutschen Archäologen Ludwig Ross - sowie einige byzantinische Kirchen wie die Kapnikarea in der Ermou-Strasse nicht abgerissen wurden, ist das Verdienst der Wittelsbacher.
Mit seiner Frau Amalia von Oldenburg, die er am 10. November 1836 in Oldenburg geheiratet hatte - die Griechen erfuhren davon erst vier Wochen später aus der Zeitung - wohnte er sieben Jahre lang, zwischen 1836 und 1843, unter sehr beengten Verhältnissen im Vouros-Haus, bis das von Friedrich von Gaertner entworfene fruehklassizistische Schloss, das heutige Parlamentsgebäude am Sintagmaplatz, vollendet war. Den Grundstein legte Ludwig I., der 1835-36 Hellas bereiste.
Ottos erste Residenz hatten die beiden Architekten Gustav Adolph Lüders und Joseph Hoffer 1833 als Privathaus für den Bankier Stamatios Dekozis-Vouros erbaut. Sein Erbe Konstantinos Dekozis-Vouris liess eine Generation später, 1859, das benachbarte Haus als Familiensitz errichten. Es ist mit dem "alten Palast" durch einen Uebergang verbunden und - obwohl ebenfalls Teil des "Museums der Stadt Athen" - als Vouros-Evtaxias-Museum besser bekannt. Das trifft fuer den "Otto-Teil" nicht zu, er existiert nicht als selbständige Einheit, als wäre der Name ein Tabu.
Im ersten Stockwerk sind die - fuenf - Räume so wiedererstanden, wie sie damals waren. Sie sind klein, wohnlich und schlicht, und auch die Einrichtung ist bescheiden. Einer davon ist der "Thronsaal" - eher ein Thronzimmerchen mit einer Art Thronstuhl auf einem erhoehten Podest -, daneben Ottos Arbeitsraum mit Porträts seines Vaters Ludwig I. und seines Grossvaters Maximilian I. sowie einer Kopie der Verfassung von 1843. Das Original befindet sich im Parlamentsgebäude. Auch die Privaträume des Paares gegenueber sind mit den Originalmoebeln ausgestattet, darunter dem Spinett, auf dem Amalia musizierte, und einem Tisch mit Tavli-Spiel, dem typisch griechischen Brettspiel, das der Koenig erlernte. In allen Zimmern hängen Stiche, die Bezug zum Leben ihrer einstigen Bewohner haben.
1862 setzten die Griechen Otto, der immerhin fast dreissig Jahre auf dem Thron sass, ab - auf einem englischen Schiff verliess das Koenigspaar das Land und kehrte nach Bayern zurueck. Fortan lebten die beiden in der fuerstbischoeflichen Residenz in Bamberg. Mit einem kleinen griechischen Hofstaat versuchten sie, ihre Athener Lebensumwelt aufrecht zu erhalten. Offizielle Hofgarderobe waren Trachten aus den verschiedenen Gegenden Griechenlands wie auch die Nationaltracht mit der Fustanella. Die abendliche Konversation erfolgte auschliesslich auf Griechisch, das Otto und Amalia vollendet beherrschten.
Obwohl man ihn ins Exil getrieben hatte, fuehlte sich Otto Griechenland noch immer so verbunden, dass er 1866 mit seiner gesamten Jahresapanage die gegen das tuerkische Joch kämpfenden kretischen Aufständischen unterstuetzte - Kreta gelangte erst 1912/13 an Griechenland. Wie sehr er Griechenland liebte, bezeugen noch seine letzten Worte auf dem Totenbett: "Griechenland, mein Griechenland, mein liebes Griechenland". Mit dieser sehnsuchtsvollen Offenbarung verschied er am 26. Juli 1867. Amalia ueberlebte ihn um acht Jahre. Das Koenigspaar ruht heute in der Fuerstenkrypta der Wittelsbacher in der Theatinerkirche in Muenchen.
Trotz mancher Fehlentwicklungen, entstanden durch gegenseitige Missverständnisse und oftmals unrealistische Ansprueche, trotz innerer wie äusserer Zwänge, dem letztlichen Scheitern der Wittelsbacher Herrschaft, hat Griechenland seinem ersten Koenig und dessen Vater viel zu verdanken. Nicht nur haben sie die institutionellen Grundlagen des modernen griechischen Staates gelegt - Ludwig hatte sich auch "als erster unter den europäischen Koenigen fuer die griechische Unabhängigkeit eingesetzt und den neuen Staat offiziell anerkannt". Er unterstuetzte die Aufständischen bereits 1821, also gleich zu Beginn des Freiheitskampfes, mit allen erdenklichen Mitteln: durch namhafte Geldbeträge aus seinem Privatvermoegen, dann, indem er Freiwillige unter dem bayerischen General Karl von Heydeck nach Hellas entsandte, er Geld- und Lebensmittelspenden fuer die notleidende Bevoelkerung sammelte, Wohltaetigkeitsveranstaltungen organisierte und schliesslich unermuedlich fuer eine breite oeffentliche Anteilnahme am Schicksal der Griechen in Bayern warb. Ausserdem stellte er direkte persoenliche Beziehungen von Athen nach Muenchen her. Junge Griechen besuchten auf Kosten Ludwigs und des bayerischen Philhellenenvereins das Griechische Lyzeum oder die Kadettenanstalt, um mit den hier erworbenen Kenntnissen am Aufbau des jungen Staates mitzuwirken. Viele von ihnen machten später in Hellas Karriere.
Alle diese Leistungen sind nicht hoch genug einzuschätzen. Sie scheinen in Griechenland in Vergessenheit geraten zu sein. Angemessene Anerkennung haben sie dort nicht erfahren.
Eines haben die Bayern den Griechen uebrigens nicht gebracht, auch wenn man das in verschiedenen Veroeffentlichungen immer wieder liest: das Blau-Weiss der griechischen Flagge. Die Farbgebung wurde von der ersten Nationalversammlung bestimmt, die 1822 in Epidaurus zusammentrat. Otto kam erst zehn Jahre später nach Hellas. "Die blaue Fahne mit dem griechisch-orthodoxen Kreuz war ein Gegenbild der roten Fahne mit dem osmanisch-byzantinischen Halbmond, genauso wie der neue griechische Staat in vielerlei Hinsicht ein Gegenstueck zum Osmanischen Reich darstellen sollte" (Nikos Hlepas).
Alle Zitate aus: Nikos Hlepas, Ein romantisches Abenteuer, in: Alexander von Bormann (Hg.), Ungleichzeitigkeiten der Europäischen Romantik, Wuerzburg 206.
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