Montag, 31. Oktober 2016

Athen - eine zerbröselnde Stadt?

Die Athener Ruinen, da denkt jeder an die Antike, an Akropolis,  Agora, Zeustempel und andere antike Überreste, die alljährlich Scharen von Besuchern aus aller Welt in die griechische Hauptstadt ziehen. Bei Spaziergängen durch die Stadt stößt man jedoch auf andere Ruinen, die verstörend wirken. Es gibt wohl keine europäische Metropole, in der man mitten im Zentrum auf so viele dem Verfall preisgegebene Gebäude trifft wie in Athen, mehrere Hundert dürften es sein. Es handelt sich in erster Linie um klassizistische Wohnhäuser aus der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, die einst das Gesicht der Stadt prägten. Allein der fleißige deutsche Baumeister Ernst Ziller hat annähernd 600  Gebäude in Athen und Piräus geschaffen. In zeitgenössischen Berichten wurde das damalige Athen denn auch als wunderschöne Stadt beschrieben, Fotos und Gemälde bestätigen das. Davon ist heute nicht mehr viel zu sehen.

Athen war nach den fast 400 Jahren türkischer Besatzung (1456-1830) nur noch ein "Haufen schmutziger Trümmer" - so beschrieb es Graf Prokesch von Osten, der österreichische Gesandte in Athen. Es war ein größeres Dorf, dessen rund 6000 Einwohner zu Füßen der Akropolis wohnten. Dieses Dorf nun machte 1834 den Sprung zur königlichen Residenz- und Hauptstadt des modernen Griechenland, und ein beispielloser Bauboom setzte ein. Die besten deutschen Stadtplaner und Architekten des 19. Jahrhunderts - Leo von Klenze, Friedrich von Gärtner, Eduard Schaubert und sein Freund Stamatis Kleanthis (beide hatten bei Karl Friedrich Schinkel in Berlin studiert), Ernst Ziller sowie die beiden dänischen Brüder Christian und Theophil Hansen - verwandelten den "Haufen" in kurzer Zeit  in eine schmucke klassizistische Stadt. Damals wurden auch die breiten Boulevards angelegt, die das Zentrum bis heute prägen.

Größere Gebäude aus jener Zeit sind, sofern sie öffentlich genutzt werden,  in recht gutem Zustand, ausgenommen das von Lysandros Kaftanzoglou erbaute Politechnion  (neben dem Archäologischen Nationalmuseum), einstmals Eliteuniversität, heute wie so viele Athener Gebäude von Grafitti beschmiert und von Parolen der Qualität  "Fuck you" und "Bullshit" besudelt, zum großen Teil leer stehend, öde und verwahrlost. Das ist um so beschämender, als von hier aus die Unruhen ausgingen, die wesentlich zum Sturz der Militärjunta im Jahr 1974 beigetragen haben. Beschämend auch der Zustand des Denkmals, das der toten Studenten erinnert, die bei der Protestaktion ums Leben kamen - der liegende Bronzekopf : Aus den Sockelritzen sprießt das Unkraut und daneben wurden ausrangierte verrostete Geräte abgelegt, eine Müllkippe.

Einstmals gehörte das Politechnion zu den Athener Sehenswürdigkeiten wie jene gepflegten Gebäude an der Panepistimiou, der Universitätsstraße: das Bauensemble der Athener Trilogie (Akademie, Universität und Nationalbibliothek) von Christian und Theophil Hansen, dem auch Wien mehrere bedeutende Bauten verdankt, das Schliemann-Haus von Ziller, heute Numismatisches Museum, das Arsakeion, die von  Kaftanzoglou erbaute, 1836 gegründete Mädchenschule, ferner die katholische Dionisius-Kathedrale des bayerischen Hofbaumeisters Leo von Klenze und die Augenklinik daneben, ein Entwurf Theophil Hansens, deren Bauleitung Kaftanzoglou oblag. Aber selbst in dieser repräsentativen Hauptstraße, die den zentralen Sintagma- mit dem Omoniaplatz verbindet, fallen einem Ruinen ins Auge  (etwa das schöne langgestreckte Haus neben dem Rex-Kino), mehr noch in der parallel verlaufenden Hauptstraße Stadiou, an der sich zumindest das Alte Parlament, das Palaia Vouli,  in erfreulichem Zustand darbietet; es dient heute als Historisches Nationalmuseum.

Das überaus bescheidene einstöckige Haus in der Nebenstraße Paparigopoulou war die erste Residenz Ottos I. und Amalias, bis sie sieben Jahre später in das frühklassizistische, von Friedrich von Gärtner erbaute Königliche Schloß am Sintagmaplatz einziehen konnten. Die provisorische "Residenz", heute Museum der Stadt Athen mit proper Fassade, hat für Ausländer den Nachteil, das eine unauffällige Tafel am Eingang nur in griechischen Lettern auf die einstige Bestimmung hinweist. Das hält die Besucheranzahl in überschaulichen Grenzen, das Haus ist gewöhnlich leer.

Ein Trauerspiel größten Ausmasses aber ist die seit Jahren voranschreitende Verwahrlosung der privaten Wohnhäuser und Villen. Besonders auffällig ist der Verfall in den Innenstadtquartieren Psirri, Keramikou und Metaxourgio, das - merkwürdig genug -  in manchen Medien noch immer als aufstrebendes Galerienviertel mit einem Zustrom von Künstlern aus aller Welt gepriesen wird, in dem Gentrifizierung stattfindet. Nur wo?  Zu sehen ist nichts, nicht einmal eine zarte Andeutung von Aufschwung, keine chicen Bars, Boutiquen, Galerien,  im Gegenteil. Ganze Straßen verfallen. Als Beispiel sei die Iasonos genannt, eigentlich ein idyllisches Gäßchen, baumbestanden, mit rund zwanzig Häusern auf jeder Seite. Von den meisten stehen nur noch die einstmals schönen Fassaden mit ihren schmiedeeisernen Balkonen und Gittern, kunstvoll gestalteten Haustüren und Gesims. Doch dahinter ist nichts, Unkraut wuchert aus den Fenstern. Ein Potemkinsches Dorf.  Einige wenige Häuser sind noch bewohnt, manche nur im Erdgeschoß, genutzt von Bordellen. Manche Häuser ließen sich vermutlich sanieren, andere sind so marode, daß nur noch der Abriß bleibt. Am funktionierenden Ende der Straße besteht eine Galerie, The Breeder, eine der besten Athens. Daneben ein kleines Restaurant mit Cafe, "La Grande Piatsa", besucht fast ausschließlich von den Bewohnern ringsum.

Ruinen auch in der Ermou, der Hauptgeschäftsstraße in der Plaka, viele ab dem Monastiraki-Platz. In Psirri, dem hochgelobten,doch völlig überschätzten Ausgehviertel Athens, sind wenige Straßen saniert - schön ist nur die Agii Anargiri mit ihren klassizistischen Häuserzeilen, in denen sich ein Straßencafe an das andere reiht -, andere Straßen sind heruntergekommen. Um den Omonia-Platz, den Viktoria-Platz, den Larissa-Bahnhof sieht es ähnlich aus. Diese einstigen Mittelstandsquartiere  verkommen zusehends. Die früheren Bewohner sind weggezogen, Wohnungen und Läden stehen leer. Die Viertel haben sich zur Durchgangsstation für Migranten entwickelt und verslummen.

Die Bevölkerung im Athener Zentrum hat in den letzten Jahren, besonders nach der Krise 2008, stark abgenommen. Das ist nicht nur das Problem einer alternden Population, das auch, denn die Geburtenrate ist ebenfalls gesunken, sondern in erster Linie ein finanzielles. Der Hausbau ist fast zum Erliegen gekommen, die Wohnungspreise sind beträchtlich gefallen, im Schnitt um 40 Prozent, ebenso die Mieteinkünfte bzw. lassen sich Häuser und Wohnungen gar nicht mehr vermieten. Der Hauseigentümer kann bei niedrigeren Einkommen die stetig steigenden Steuern und Nebenkosten nicht mehr aufbringen, Geld für Reparaturen, Renovierungen geschweige denn Sanierung ist nicht da. Die Banken geben kaum Kredite, Fördergelder von der Regierung gibt es nicht. Viele marode Häuser stehen zum Verkauf, aber es finden sich keine Käufer. Niemand will investieren. Die Unsicherheit ist zu groß, die Preise könnten ja noch weiter fallen. Aus diesen Gründen schlagen auch die Kinder mehr und mehr das Erbe ihrer Eltern aus, sofern es sich um Hauseigentum handelt. Eigentum ist nur noch eine Last und kein sicherer Hafen mehr wie noch vor der Krise.  Es ist eine Spirale ohne Ende. Athen wird sein Gesicht verändern. 

Selbst in den wohlhabenden Stadtteilen Palaio Psychiko, Kifissia und Kolonaki geht die Unsicherheit um. Allerdings strahlen die Villen dort weiterhin in blendendem Weiß. Keine Grafitti, kein Verfall.