Sonntag, 18. August 2013

Stille Stunden in Athen - der Erste Athenische Friedhof. Die Grabstätten von Heinrich Schliemann und Adolf Furtwängler

Der Proto Nekrotafio Athinon, der Erste Athenische Friedhof, ist der Friedhof schlechthin. Auf ihm möchte jeder Athener begraben sein. Für den, der hier kein Familiengrab hat, stehen die Chancen jedoch schlecht. Schon seit Jahrzehnten sind keine Grabstätten mehr zu kaufen, und wenn gelegentlich eine frei wird, was immer dann passiert, wenn eine Familie ausstirbt, übersteigt die Nachfrage das Angebot tausendfach. Auch muss man sich ein Grab hier leisten können. Für das Privileg, wenigstens nach dem Tod noch den sozialen Aufstieg geschafft zu haben, wechseln oftmals horrende Summen die Besitzer. In der feinsten Nekropole Griechenlands fanden seit jeher die Reichen und Prominenten ihre letzte Ruhe, lokale Berühmtheiten ebenso wie internationale Geistesgrössen des 19. Jahrhunderts, die sich um Hellas verdient gemacht haben. Darunter sind bekannte deutsche Philhellenen, die im Gefolge Ottos I. nach Athen kamen, Konsuln, Wissenschaftler, Offiziere und königliche Adjutanten und nicht zuletzt zwei der bedeutendsten deutschen Archäologen, Heinrich Schliemann und Adolf Furtwängler.

Solange der neugriechische Staat besteht, solange gibt es den Proto Nekrotafio Athinon. Otto I., der aus dem bayerischen Haus Wittelsbach stammende erste Hellenenkönig, liess ihn 1834 an einem Platz anlegen, der damals noch extra muros lag, ausserhalb des 5000-Seelen-Dorfes, das Athen kurz nach der Befreiung von den Türken war. Heute liegt er im Zentrum der Millionenstadt, 15 Minuten vom Sintagmaplatz entfernt. Die einzige Zugangsstrasse ist die Odos Anapafseos, die "Strasse der Ewigen Ruhe", in der Steinmetzen und Floristen ihre Läden haben. Ein Gefühl der Ruhe umfängt den Besucher auch auf dem Friedhof, vielleicht der einzige Ort der Stille in dem lauten Athen und sicherlich der am sorgsamsten gepflegte Platz der ganzen Stadt. Kein Unrat liegt herum, kein Grab ist verfallen oder von Unkraut entstellt. Man sieht weder mutwillig zerbrochene oder umgestürzte Grabsteine noch Grafitti, weit und breit keine Spuren von Vandalismus. Auch Stadtstreichern oder Fixern, die es sich erlauben würden, hier zu kampieren, begegnet man nicht. Hingegen entdeckt man beim Schlendern durch die weissen Grabmalreihen so manches Gerüst an den oft herrenhausgrossen Gruften und Arbeiter, die Restaurationsarbeiten vornehmen. Für den Erhalt der Denkmäler wird Sorge getragen.

Die Touristenagenturen haben die marmorweisse Totenstadt noch nicht in ihr Programm aufgenommen. Friedhofsführungen, wie sie in anderen Grossstädten längst üblich sind, gibt es in Athen nicht. Man kann stundenlang durch die Gräberstrassen spazieren, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Schliemanns Grab ist nicht zu übersehen. Das tempelartige Mausoleum, in dem auch seine griechische Ehefrau Sophia Engastromenou und ihrer beider Tochter Andromachi Melas bestattet sind (Sohn Agamemnon ist in Paris begraben), steht auf einer Anhöhe links über dem Hauptweg, nur wenige Schritte vom Eingang entfernt. Schliemann hatte diesen Platz mit Blick auf die Akropolis noch zu seinen Lebzeiten erworben und als Platz für seine letzte Ruhestätte bestimmt. Auch den Bau des Mausoleums hatte er lange vor seinem Tod - er starb am 26. Dezember 1890, 68 Jahre alt, an einer verschleppten Ohreninfektion in Neapel - bis ins kleinste vorbereitet. Geld spielte keine Rolle. Stararchitekt Ernst Ziller, dem Athen viele der schönsten neoklassizistischen Gebäude verdankt und der auch Schliemanns prächtiges Wohnpalais an der Athener Universitätsstrasse baute, schon damals eine Sehenswürdigkeit für Athen-Besucher, standen 50 000 Drachmen zur Verfügung, eine unerhörte Summe, die ihm völlig freie Hand liess.

Auch die Gestaltung der Grabkammern überliess Schliemann nicht dem Zufall. In Punkt 29 seines in Neugriechisch abgefassten Testaments verfügte er, dass sie mit Motiven aus Pompeji und Orchomenos, wo er 1880 das mykenische Schatzhaus des Minyas freilegte, ausgemalt werden sollten. Es sei "vorher aber mit dem Maler über diese Arbeit ein Vertrag abzuschliessen", ermahnte der vorsichtige Schliemann die Testamentsvollstrecker. Nicht umsonst hatte der Pastorensohn eine glänzende Karriere als Kaufmann hinter sich, bevor er seine zweite, noch glänzendere Karriere als Archäologe mit der ihm eigenen Energie und Zielstrebigkeit in Angriff nahm. Ohne die zuvor angehäuften Reichtümer wäre der glühende Homer-Verehrer nie an das Ziel seiner Wünsche gelangt.

Die Schliemann-Büste vor dem Tempel gab Sophia in Auftrag, die - mit 38 Jahren Witwe geworden - ihren Mann um 42 Jahre überlebte. Der umlaufende Wandfries stellt das Ehepaar in Troja dar, umgeben von türkischen Arbeitern, die mit Spitzhacke und Spaten die kostbaren Funde zutage fördern, von denen Schliemann glaubte, sie seien der Schatz des Priamos. Der Archäologe rezitiert aus einem Homer-Band, die ihm zugewandte Sophia hört ihm aufmerksam zu. In seinen letzten Lebensjahren hatte Schliemann eine regelrechte Homer-Manie entwickelt. "Einzig Homer interessiert mich noch", erklärte er einem Freund. "Alles andere wird mir immer gleichgültiger."  

Schliemann starb einsam am 26. Dezember um 15.30 Uhr im Grand Hotel in Neapel an einer verschleppten Infektion der Ohren. Nahezu taub, hatte er sich am 12. November in Halle einer komplizierten beidseitigen Ohrenoperation unterzogen. In dem Gefühl einer trügerischen Besserung verliess er gegen den Rat der Ärzte die Klinik, um seinen Geschäften nachzugehen. In Leipzig hatte er eine Besprechung mit Brockhaus, in Berlin verhandelte er mit seinem Grundstücksverwalter und begutachtete mit seinem Freund Virchow die Schliemann-Sammlung. Noch am selben Abend fuhr er mit dem Zug nach Paris, wo ebenfalls Geschäfte auf ihn warteten. Von dort reiste er weiter nach Neapel, um sich die neuesten Ausgrabungen in Pompeji anzusehen. Damit hatte der Rastlose seinem geschwächten Körper wohl zuviel zugemutet. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, und er musste seine Heimreise nach Athen zweimal verschieben. Am ersten Weihnachtsfeiertag brach er auf der Piazza della Carita, vermutlich auf dem Weg zu einem Arzt, bewusstlos zusammen. Unglücklicherweise hatte er keine Papiere bei sich, so dass wertvolle Zeit verstrich, bis man seine Identität festgestellt hatte. Aber auch ein nochmaliger Eingriff hätte ihn nicht mehr retten können, die Infektion war zu weit fortgeschritten. Noch während die Ärzte das weitere Vorgehen diskutierten, starb Schliemann. Von Neapel aus wurde die Todesnachricht in die Welt gekabelt. Aus allen Erdteilen trafen Beileidsdepeschen in Athen ein. Prominente aus Wissenschaft, Politik und Kultur würdigten die ungeheure Leistung des Mannes,der unbeirrbar an den Wahrheitsgehalt der homerischen Epen glaubte und mit genialem Spürsinn und Enthusiasmus eine versunkene Kultur ans Licht brachte, die andere als ins Reich der Sage gehörend abtaten. Unter denen, die ihrer Trauer Ausdruck gaben, war auch der Botschafter Amerikas: Heinrich - Henry - Schliemann war amerikanischer Staatsbürger. Die Trauerfeier fand am 4. Januar 1891 in Schliemanns Haus an der Athener Universitätsstrasse (Odos Panepistimiou) statt. Auch ihren Ablauf hatte er lange vor seinem Tod bis ins Detail geplant. Am Kopfende des offenen Sarges stand eine Büste Homers, des Schliemannschen "Hausgotts". Im Sarg lagen eine Ausgabe der Ilias und der Odyssee. Die Trauerrede hielt sein Freund und Mitarbeiter Wilhelm Dörpfeld, der den Toten nach Griechenland heimgeholt hatte. "Ruhe in Frieden, Du hast genug getan", waren seine Abschiedsworte. Auch der König von Griechenland und der Kronprinz erwiesen ihm ihre Reverenz. Sie hielten die Totenwache.

Ein anderer bedeutender Archäologe, Adolf Furtwängler (1853-1907), fand seine letzte Ruhestätte in dem kleinen protestatischen Teil des Friedhofs. Sein Grab ist relativ bescheiden, gekrönt nur von einer bronzenen Sphinx, einer Kopie vom Aphaiatempel auf der Insel Ägina, den Furtwängler zu Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch freilegte. Die meisten Gräber in diesem Teil des Friedhofs sind schmucklos und bescheiden. Viele amerikanische und englische Philhellenen liegen hier begraben.

Auch Ziller ist auf dem Ersten Athener Friedhof beerdigt. Er starb am 25. November 1923 verarmt in Athen.