Samstag, 30. Juli 2016

Der Marmorbildhauer Giannoulis Chalepas aus Tinos - das tragische Leben eines großen Künstlers

Wenn man in Reiseführern die meist kurzen Artikel über den Ersten Athenischen Friedhof liest, findet man dort regelmäßig einen Hinweis auf das Grabdenkmal der Koimomeni, der "Schlafenden", das ein Bildhauer aus Tinos, Giannoulis Chalepas, schuf. (Auch ich erweise diesem großartigen Monument jedesmal, wenn ich den Friedhof besuche, meine Reverenz). Näheres über Chalepas jedoch erfährt der Leser gewöhnlich nicht. Wer aber war der Künstler, der dieses Meisterwerk des Klassizismus schuf? Welche Bedeutung hat er für die griechische Kunstgeschichte?

Bis zur Gründung des neugriechischen Staates waren die griechische Kunst und Architektur byzantinisch und neobyzantinisch mit dem Schwerpunkt Ikonenmalerei, die Skulptur kopierte oder imitierte die Antike. Das änderte sich erst ab 1833, mit der Inthronisierung des Wittelsbachers Otto I., unter dessen Herrschaft sich Griechenland Westeuropa und besonders Bayern öffnete. Mit Beginn der bayerischen Ära erfuhren junge Griechen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllten, in München ihre Schulausbildung, erhielten junge Künstler die Gelegenheit, an der dortigen Akademie der Bildenden Künste, einem Zentrum des Klassizismus in Europa, zu studieren und aus ihrer Isolation zu treten. Finanziert wurden die Aufenthalte durch Spenden und Stipendien.

Einer der Stipendiaten war der Marmorbildhauer Giannoulis Chalepas (1851-1938), der aus einer Steinmetzfamilie aus Pirgos, Hochburg der Marmorbildhauerei, stammte. Sein Vater Ioannis war ein bekannter Steinmetz, der seine Arbeiten, vor allem Grabdenkmäler, nach Athen und sogar Smyrna verkaufte. Seine Kunden waren die kleine Schicht wohlhabender Familien, die vor allem Kopien antiker Stelen und Monumente aus verschiedenen Epochen nachfragten oder die Umsetzung antiker Motive und Themen verlangten. Giannoulis, der älteste der fünf Chalepas-Söhne, entschied sich schon in jungen Jahren für die Bildhauerei und ging 1869 nach Athen, wo er bis 1872 an der dortigen Kunsthochschule studierte. Sein Lehrer war Leonidas Drosis (1834-82), einer der bekanntesten Plastiker des späten 19. Jahrhunderts, der für die Athener Akademie des Theophil Hansen ("Trilogie" an der Panepistimiou-Straße) die Statuen "Athene" und "Apollo", beide auf hohen ionischen Säulen stehend, und die Sitzbilder "Plato" und "Sokrates", alle vor der Akademie, schuf. Von ihm stammt auch die Büste des Simon Sina in der Halle,ein in Wien lebender griechischer Bankier, mit dessen finanzieller Unterstützung Drosis in München studiert hatte und der auch den Bau der Trilogie unterstützte.

Die Athener Kunsthochschule war aus der Abteilung "Schule der Schönen Künste" des 1836 als "Technische Schule" gegründeten Polytechnikums hervorgegangen. Ihr erster Direktor war der bayrische Architekt Friedrich von Zentner, sein Nachfolger der griechische, in Rom und Paris ausgebildete Architekt Lysandros Kaftanzoglou (1811-85), der das Polytechnikum von 1844 bis 1862 leitete. (Er baute übrigens die Arsakeion-Mädchenschule, stellte - nach Leo von Klenzes Plänen - die katholische Agios-Dionisios-Kathedrale und nach dem Entwurf Theophil Hansens die Augenklinik daneben fertig, alle drei an der Panepistimiou. Das ebendortige pompöse Wohnhaus Heinrich Schliemanns, im Neorenaissancestil von seinem Erzrivalen Ernst Ziller erbaut, bezeichnete der leidenschaftliche Verfechter des schlichten Athener Klassizismus als rundum geschmacklos, als "unerträglichen Aussatz".) Selbst als freischaffender Künstler arbeitend, veranstaltete Kaftanzoglou alljährlich Ausstellungen, die den Kunststudenten die Möglichkeit boten, ihre Werke der Öffentlichkeit vorzustellen sowie - andererseits - interessierte Athener mit den neuen Strömungen in der bildenden Kunst bekannt zu machen und die wenigen Vermögenden zum Kauf zu animieren.

1873 ging Chalepas an die Münchener Akademie und setzte seine Studien bei dem damals namhaften Plastiker Max von Widnmann, einem Freund des berühmten dänischen Bildhauers Bertil Thorwaldsen, fort. Schon dort wurden seine Arbeiten mit Preisen ausgezeichnet. 1876 kehrte er nach Athen zurück, wo er sich ein Atelier einrichtete und 1877 mit der Arbeit an der "Schlafenden" begann. Georgios Ikonomou Afentakis hatte ihn beauftragt, ein Grabmal für seine im Alter von achtzehn Jahren verstorbene Nichte Sophia Afentaki, Tochter seines Bruders Konstantinos, zu schaffen. An dem fertigen Bildnis deutet nichts auf die Endgültigkeit des Todes hin, das junge Mädchen scheint zu schlafen. Es war Chalepas' letztes Werk - und sein bekanntestes -, bevor seine psychische Krankheit, vermutlich Schizophrenie, diagnostiziert wurde. Da die Psychiatrische Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, versuchte man mit untauglichen Mitteln ihn zu heilen. Doch keine Therapie half, sein Zustand verschlechterte sich sogar. 1888 schickte ihn seine Familie in eine psychiatrische Anstalt nach Korfu, wo er zwölf Jahre verbrachte. Dort wurden seine künstlerischen Arbeiten, an denen er sich versuchte, zerstört. Zuvor, zu Beginn der Krankheit, hatte er seine Arbeiten noch selbst vernichtet, weil sie ihm nicht perfekt genug erschienen.

Nach dem Tode seines Vaters 1901 holte ihn seine Mutter nach Tinos zurück, verbot ihm aber, sich künstlerisch zu betätigen, weil sie, wie zuvor die Ärzte, darin die Ursache seiner Krankheit sah. Selbst seine Skizzen und Zeichnungen nahm sie ihm weg und zerriss sie. Er lebte fortan als Schafhirte im Dorf und galt als wahnsinnig. Nachdem 1916 auch seine Mutter gestorben war, war für ihn nach vierzig verlorenen Jahren der Zeitpunkt gekommen, sich freier und intuitiver denn je seiner Kunst zu widmen. Er hatte alle Begrenzungen über Bord geworfen, ließ nichts zu, was ihn einengte. 1923 stellte ein Athener Professor Gipsabdrücke seiner Arbeiten in der Athener Akademie aus. Es wurde ein großer Erfolg. 1930 kehrte er nach Athen zurück und machte bis zu seinem Tod am 15. September 1938 eine zweite - späte - Karriere. Ihm wurden mehrere Ausstellungen gewidmet, er gewann Preise und errang die verdiente Anerkennung noch zu Lebzeiten.

Giannoulis Chalepas, dem manche Kunsthistoriker den Rang eines Rodin zuerkennen, gilt als einer der bedeutendsten Bildhauer der Neuzeit Griechenlands. Er gehört zu denen, mit dem die neugriechische Kunst ihren Anfang nimmt und eine Brücke vom 19. in das 20. Jahrhundert schlägt. Von seinen Werken haben sich rund 150 erhalten, ferner mehrere hundert Skizzen.

Dienstag, 26. Juli 2016

Das Makronissos-Museum in Athen

Athen hat viele kleine Privatmuseen. Eines davon ist das Makronissos-Museum in der Agion-Asomaton-Straße 31, gegenüber dem Benaki-Museum für Islamische Kunst, dessen exquisite Ausstellung zu den führenden Sammlungen islamischer Kunst weltweit gehört. Entsprechend häufig wird es besucht, wohingegen das kleine Makronissos Exil-Museum eher ein Schattendasein führt. Wer sich indes ein Bild von der neueren Geschichte Griechenlands machen möchte, sollte sich ein wenig Zeit für einen Besuch nehmen.

Vor knapp hundert Jahren begannen die jeweiligen griechischen Diktatoren damit, Regimegegner, Oppositionelle und sonstige mißliebigen Zeitgenossen auf unbewohnte oder abgelegene Inseln zu verbannen. Die bekanntesten und gleichsam der Inbegriff für Deportation und Folter sind Leros, das Felseneiland Jaros nahe Siros, Ai Strati (Agios Efstratios) und später Makronissos. Der Lyriker Jannis Ritsos, der auf Limnos, Ai Strati und Makronissos inhaftiert war und 20 Jahre später von der Militärjunta auf Leros und Samos erneut festgesetzt wurde, fand für die Situation der Gefangenen die bekannte Gedichtzeile, die alles sagt: "Unsere einzigen Urkunden: drei Worte: Makronissos, Jaros und Leros. Und wenn euch unsere Verse eines Tages ungeschickt erscheinen, denkt nur daran, daß sie geschrieben wurden unter den Augen der Wächter und mit der Lanze immer in unserer Seite" (in dem Band "Unter den Augen der Wächter", 1989).

Von Leros - Gefängnis-, Verbannungs- und noch Anfang der neunziger Jahre berüchtigte Psychiatrieinsel - sagte der englische Schriftsteller Lawrence Durrell, der 1945-47 als britischer Presseattache auf Rhodos lebte: "Leros ist eine elende Insel ohne jeden Charakter. Gott helfe denen, die dort geboren sind, und denen, die dort leben." Die relativ kleine Dodekanes-Insel mit ein wenig Tourismus heute und einem schlechten Ruf seit jeher, war unter der Obristenherrschaft eines der Konzentrationslager für Regimegegner. Prominenteste Gefangene waren Jannis Ritsos und der KP-Vorsitzende Charilaos Florakis. Ein anderes Internierungslager war Jaros, das unbewohnte, nur 17 qkm große Felseneiland. Verbannungsort schon unter den römischen Kaisern und in byzantinischer Zeit, war es noch unter der Militärjunta (1967-74) Häftlingsinsel. Die Obristen schafften Tausende politische Gefangene hierher (auch Ritsos, der KP-Mitglied war, war vor seiner Deportation nach Leros auf Jaros) und auf die anderen KZ-Inseln, Mitglieder der Zentrums-Union, der Lambrakis-Jugend u.a., gewöhnlich ohne Gerichtsverfahren und -urteil. 1974, nach dem Ende der Militärherrschaft, wurde Jaros geschlossen.

Nach dem abgelegenen Ai Strati, südlich von Limnos in der nördlichen Ägäis gelegen, mit gerade einmal zweihundert Einwohnern, wurden zwischen 1928 und 1963 geschätzte Hunderttausend politische Gefangene verbracht, neben Ritsos auch Mikis Theodorakis, der Schauspieler Manos Katrakis, der Journalist und Schriftsteller Kostas Varnalis sowie der Schriftsteller Nikos Karouzos.

Für sie alle waren die griechischen Inseln die Hölle.

Auf Makronissos, das wie ein Riegel östlich vom Hafenort Lavrion und vom Kap Sounion liegt, wurden nach dem Ende des Bürgerkriegs (1946-49), ein unrühmliches Kapitel in der griechischen Geschichte, das rund 600 000 Tote forderte, vor allem Linke und Kommunisten interniert, die dort in jahrelanger Haft Folterungen, Erniedrigungen, Zwangsarbeit und Hunger ausgesetzt waren. Tausende fanden den Tod. Auch Ritsos, Katrakis, Theodorakis,der Lyriker Tassos Livaditis und der Jurist und Widerstandskämpfer Apostolos Sandas waren auf Makronissos inhaftiert. Sandas hatte am 30. Mai 1941 zusammen mit Manolis Glezos die Hakenkreuzfahne von der Akropolis gerissen. Daran erinnert auf der Akropolis seit 1982 eine Bronzetafel. Theodorakis zog sich auf Makronissos sein Lungenleiden zu, das "Makronissos-Fieber", an dem viele Deportierte litten.

Die beiden Museumsräume sind angefüllt mit Schriftdokumenten und Fotografien. Zettel, handschriftliche Briefe und Postkarten an Freunde und Verwandte sind Zeugnisse aus einer Zeit, die noch sehr präsent ist. Die gesamte Korrespondenz ist auf Griechisch geschrieben. Man kann aber eine Broschüre erwerben, die - illustriert mit Plänen und Fotos - auf Englisch über die Geschichte von Makronissos informiert.