Das vor zehn Jahren gegründete und seitdem provisorisch untergebrachte Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst (EMST) wartet seit Jahren auf seinen Umzug, der nach etlichen Verzögerungen und "definitiven" Ankündigungen jetzt wohl irgendwann im Jahr 2015 erfolgt; ein genaues Datum für die Wiedereröffnung steht noch nicht fest. Sein neues festes Domizil, das einstige Gebäude der Bierbrauerei Fix, ein riesiger grauer Betonquader zwischen der Odos Kallirois und dem Leoforos Syngrou, ist längst fertiggestellt. Seine Pforten bleiben aber vorerst geschlossen, weil der Etat des laufenden Museumsbetriebs nicht gesichert ist. Das Kulturbudget ist in der Schuldenkrise drastisch gekürzt worden. Da der griechische Staat nur mit Mühe in der Lage ist, seine antiken Kulturgüter angemessen zu unterhalten, bleibt für die moderne Kunst kaum etwas übrig; sie war und ist chronisch unterfinanziert. Ohne private Initiativen und Unterstützer ginge gar nichts. Drei Millionen Euro sagte die Stavros-Niarchos-Stiftung dem notleidenden Museum zu, und Dimitri Daskalopoulos, Unternehmer, Sponsor und selbst passionierter Kunstsammler - einer der kaufkräftigsten und kauffreudigsten weltweit -, stellte einen Ankaufsfonds bereit. Es fehlen aber immer noch annähernd zwei Millionen Euro, die wohl ebenfalls von privater Seite kommen müssen. Sollte das EMST endlich in den Zenetos-Bau umgezogen sein, hat es das Potenzial, ein großer Anziehungspunkt zu werden, quasi als Pendant zum Akropolismuseum. Athen kann nicht ewig nur von seiner antiken Vergangenheit zehren.
Abgesehen von den momentanen Nöten des EMST wird die Athener Kunstszene immer lebendiger. Sie verändert sich rapide, als wären in der Krise ungeahnte Kräfte frei geworden. So hat sich in kurzer Zeit eine äußerst kreative Szene in Form eines recht dichten Netzes kleinerer Künstlerkollektive etabliert, hat eine stattliche Anzahl privater Sammlungen ihre Türen geöffnet und haben neu gegründete Stiftungen ihre Arbeit aufgenommen und beachtliche Ausstellungen auf die Beine gestellt.
Eine davon ist die 2013 von Dimitri Daskalopoulos ins Leben gerufene Kulturstiftung Neon, deren Ziel es neben anderen ist, den Griechen die internationale Gegenwartskunst nahe zu bringen. Neon verzichtet auf ein eigenes Museum. Sie organisiert Kunst im öffentlichen Raum, an Orten, die in das alltägliche Leben eingebunden und jedem leicht zugänglich sind. Damit will sie ein möglichst grosses Publikum erreichen, vor allem Menschen, die noch nie eine Galerie betreten haben. Die erste Ausstellung (in Kooperation mit der Londoner Whitechapel Gallery) fand im Sommer 2013 im Garten der Gennadios-Bibliothek statt und erfreute sich regen Zuspruchs. 2014 brachte Neon einen außergewöhnlichen Künstler nach Athen, den Deutsch-Briten Tino Sehgal, der in Berlin lebt. Sehgals Kunst konnte man bereits im Guggenheim-Museum in New York, in der Turbinenhalle des Tate Modern in London, im Museum Ludwig in Köln, in Berlin und an anderen Orten erleben. Er war für den Turner-Preis, den wichtigsten englischen Kunstpreis, nominiert und wurde 2013 als bester Künstler auf der 55. Biennale Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Sehgals Kunst ist immateriell. Sie existiert lediglich in der Interaktion des Besuchers mit von Sehgal ausgewählten Akteuren, den "Interpreten", die den Besucher ansprechen, ihm Fragen stellen oder auf andere Weise mit ihm in Kontakt treten. Nichts bleibt über den Moment hinaus erhalten. Der Ort für diese Vorstellung war gut gewählt: die Römische Agora im Altstadtviertel Plaka, eine der wichtigsten antiken Stätten Athens, an der Zehntausende Menschen täglich vorbeigehen.
International bedeutende Künstler stellt seit drei Jahrzehnten die im Athener Kunstleben sehr präsente Deste-Stiftung des Dakis Ioannou aus. Im Jahr 2014 widmete sie u.a. dem deutschen Fotografen Jürgen Teller eine Solo-Schau unter dem Titel "Macho". Teller zählt zu den namhaften Fotografen der Gegenwart. Er lebt und arbeitet in London, verbringt viel Zeit in Griechenland und zeigt seine Arbeiten in renommierten Häusern auf der ganzen Welt. Die Stiftung kümmert sich aber auch um den griechischen künstlerischen Nachwuchs. So wird 2015 wieder der Deste-Preis vergeben, der seit 1999 alle zwei Jahre einen jungen Hellenen auszeichnet. Die Nominierten (die Shortlist) werden Ende Januar 2015 bekannt gegeben, ihre Werke sind von Ende Mai bis Ende September im Kykladenmuseum zu sehen. Deste organisiert ferner Ausstellungen im Benakimuseum in der Piräosstrasse und jeden Sommer in seiner Dependance auf der kleinen Insel Hydra, 50 Seemeilen südlich von Athen, ein Ereignis, das inzwischen ein Pflichttermin für die Kunstmarkt-Elite auf ihrer grossen Europatour geworden ist. Nach der Art Basel, der weltgrößten und bedeutendsten Kunstmesse, schauen alle wichtigen Leute auf Hydra vorbei - Sammler, Händler, Kuratoren und die Künstlerstars - und verbinden knallhartes Geschäft mit Spaß. Danach trifft man sich auf den grossen Londoner Auktionen, später auf der Frieze und den anderen internationalen Messen. Leider nicht auf der alljährlichen Art Athina. Der 1993 vom einheimischen Kunsthandel gegründeten Messe bleibt das Ausland eher fern. Vertreten sind aber alle wichtigen Athener Galerien, so daß man sich einen guten Überblick über deren Angebot verschaffen kann.
Ein anderer großer Sammler, der Reeder George Economou, zeigt seit 2012 Werke aus seiner Kollektion in seinem eigenen "Galeriehaus" in Maroussi. Das ultramoderne Gebäude liegt direkt hinter seinem Firmensitz. Economou, dessen Schwerpunkt lange auf der deutschen und österreichischen Malerei des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lag, hat sein Interesse neuerdings ebenfalls auf die Zeitgenossen verlegt. Er setzt jedoch mehr als beispielsweise Dakis Ioannou auf Künstler, die ihren Platz in der Kunstgeschichte schon sicher haben, als auf solche, die sich erst noch einen Namen machen müssen. Seine Ausstellungen - zwei bis drei pro Jahr - gehören zum Besten, was man in Athen sehen kann. Jedes Stück aus seiner Sammlung ist ein Spitzenwerk, so auch jedes einzelne in der im September 2014 eröffneten Gruppenschau "Thorn in the Flesh" (kuratiert von Dieter Buchhart), die noch bis April 2015 offen ist. Zu sehen sind ausgewählte Arbeiten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute: von Basquiat, Beckmann, Bourgeois, McCarthy, Condo, Dine, Dubuffet, Judd, Shiraga, de Kooning, Oldenburg, Penck, Pistoletto und Rauch.
George Economou ist auch ein generöser Leihgeber. So richtete er von Mai 2013 bis Januar 2014 aus seiner Kollektion die Ausstellung "Gegenlicht. Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts" in der Sankt Petersburger Eremitage aus, mit Werken u.a. von Otto Dix, von dem Economou die größte Sammlung weltweit besitzt, Ernst Ludwig Kirchner, Georg Baselitz, Neo Rauch und Anselm Kiefer, von dem er fünf Gemälde hat (darunter "Tempelhof", das er 2012 von der Londoner White Cube Gallery erwarb).
Viel Aufmerksamkeit erfährt auch die Theocharakis Foundation, ein Kulturzentrum am Vasilissis-Sofias-Boulevard gegenüber dem Nationalgarten, wo Lesungen, Konzerte, Workshops und Ausstellungen bekannter griechischer und internationaler Künstler stattfinden und dessen Cafe-Restaurant "Merlin" ein beliebter Treffpunkt ist. Ein grosser Erfolg war 2014 die Schau "Hellenische Renaissance" über den dänischen Architekten Theophil Hansen, der (zusammen mit seinem Bruder Christian, Hofarchitekt des griechischen Königs Otto I.) das Stadtbild Athens im 19. Jahrhundert maßgeblich mitbestimmt hat. Er entwarf einige der bekanntesten Bauten im Zentrum, darunter die "Athener Trilogie", das Zappion, die Sternwarte und das Hotel Grande Bretagne (damals das Palais Dimitriou) am Sintagmaplatz. Nach seinen Athener Jahren war Hansen in Wien tätig, wo er mehrere Ring-Palais baute, ferner das Parlament, die Griechenkirche und das Gebäude des Musikvereins, noch immer einer der akustisch besten und schönsten Musiksäle der Welt, in dem die Wiener Philharmoniker alljährlich ihr berühmtes Neujahrskonzert spielen. Die Theocharakis-Aktivitäten werden zusätzlich von der Niarchos-Stiftung unterstützt, die gerade das Projekt eines eigenen Kulturzentrums verfolgt. Der Entwurf für den riesigen Komplex an der Faliro-Bucht fünf Kilometer südlich stammt von dem italienischen Architekten Renzo Piano, der u.a. das Centre Pompidou in Paris und den Wolkenkratzer The Shard in London baute.
Eine bekannte Gestalt in der Athener Kunstszene ist der Sammler Vlassis Frissiras. Das private "Frissiras-Museum", in zwei schönen neoklassischen Gebäuden in der Plaka untergebracht, besteht bereits seit Dezember 2000. Es besitzt eine ansehnliche Sammlung europäischer und amerikanischer Maler, insgesamt ca. 3500 Gemälde und Zeichnungen, ist aber stärker auf griechische Künstler konzentriert, die in Europas Museen kaum präsent sind.
Mitten in der Krise ist auch die "Freie Szene" in Bewegung geraten. Zwar ist die finanzielle Situation angespannt, besonders für die jungen und jüngsten meist kaum bekannten Künstler, aber Not macht erfinderisch, und so haben sich einige zu autonomen Gruppen zusammengeschlossen und teilen sich bezahlbare Ateliers und Projekträume, in denen sie sich ausprobieren, experimentieren und erstmals ihre Arbeiten zeigen, immer in der Hoffnung, von zahlungskräftigen Sammlern oder Sponsoren entdeckt zu werden. Möglich, daß irgendwann einmal professionelle Galerien daraus hervorgehen. Noch allerdings haben die wenigsten kommerziellen Erfolg, der Markt ist einfach zu klein, der Kreis der Käufer stark begrenzt. Viele der Ateliers befinden sich in den benachbarten Problemvierteln Metaxourgio und Keramikos, die einer schnellen Gentrifizierung erfolgreich getrotzt haben. Die günstigen Mieten für Arbeitsräume und Wohnungen und die Aufbruchsstimmung haben bereits unternehmungslustige, dynamische Talente aus der Londoner und Berliner Kreativszene angelockt. Manche vergleichen dieses Quartier schon mit dem New Yorker SoHo der achtziger Jahre.
In Metaxourgio haben sich auch einige renommierte Galerien niedergelassen wie Rebecca Camhi, The Breeder und die erst 2012 von Marina Fokidis gegründete Kunsthalle Athena. Marina Fokidis pflegt Kontakte zur europäischen Kunstszene, arbeitet als Kuratorin und verfaßt Texte für ein Magazin. Für Jürgen Tellers Ausstellung bei Deste schrieb sie die ausführliche Einführung. Jetzt muß sich Fokidis nach einem neuen Standort umsehen: Ihrer Galerie in der Odos Keramikos wurde vom Eigentümer gekündigt.
Daß die Gegenwartskunst eine immer größere Rolle spielt, ist einzig den Initiativen der privaten Sammler, Stiftungen und mehreren potenten Galerien zu verdanken. Sie machen es möglich, daß die Werke international wichtiger Künstler überhaupt in Athen zu sehen sind. Da einige der weltweit einflußreichsten Sammler wie Ioannou, Daskalopoulos, Economou u.a. ausschließlich erstrangige Werke hochgehandelter Spitzenkünstler kaufen - etwa von Jeff Koons und Gerhard Richter, die als teuerste Künstler der Welt gerade Platz eins und zwei belegen -, ist auch die Qualität der von ihnen organisierten Ausstellungen hoch. Die Kunstfreunde dürfen gespannt sein. Sie werden auch künftig mit außergewöhnlichen Präsentationen rechnen dürfen.
Wenig bekannt sind in Westeuropa die griechischen zeitgenössischen Künstler (sieht man einmal von den Auslandsgriechen wie Iannis Kounellis, Takis, Alekos Fassianos, Ioannis Psychopaidis, Alexis Akrithakis ab). Ob die Bemühungen von Einrichtungen wie Deste, Frissiras oder manchen Galerien ihnen zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen, bleibt abzuwarten. Noch ist ihre Sichtbarkeit außerhalb des Landes gering. Auch die Tatsache, daß Athener Galerien wie The Breeder, Bernier Eliades, Kalfayan und Koroneou international gut vernetzt sind und an den wichtigen europäischen und amerikanischen Messen teilnehmen, hat daran wenig geändert. Momentan spielt die griechische Kunst nur eine marginale Rolle. Die jungen Hellenen schauen zwar auf die westlichen Metropolen, der Westen aber nicht nach Athen. Vielleicht ändert sich das 2017, wenn die Documenta auch in Athen stattfindet. Sie könnte einen Durchbruch bewirken.
Auch die Griechen selbst tun sich noch immer schwer mit aktueller progressiver Kunst. Das Interesse ist vergleichsweise gering. Abgesehen von den Vernissagen, die als gesellschaftliches Ereignis gelten, sind die Galerien und Ausstellungsräume schlecht besucht.
"Ein Teil ihres täglichen Lebens", wie es Dimitris Daskalopoulos hofft, ist den Griechen die Gegenwartskunst bisher nicht geworden.
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