Die diesjährige Biennale versammelt 89 Länderpräsentationen und 136 Künstler. Okwui Enwezor, Leiter des Hauses der Kunst in München und Kurator der Gesamtschau, der schon die Documenta 2002 in Kassel verantwortete, hatte das Motto "All the world's futures" ausgegeben, das wohl nur auf den ersten Blick optimistisch schien. Man durfte auf aktuelle Kunst gespannt sein, die politische und soziale Positionen ins Zentrum ihrer Arbeit stellt: die Globalisierung und ihre Folgen für den einzelnen Menschen, die Instabilität der Welt, die Verfolgung, Kriege und Flüchtlingsströme nach sich zieht sowie Existenzkampf und Armut auslösende Krisen auch in Industriestaaten und deren Auswirkungen auf die Gesellschaften, ferner andere drängende Fragen, etwa im Natur- und Umweltschutz.
Diesem Konzept werden relativ viele Präsentationen gerecht, eine positive Sicht auf die Zukunft bleibt jedoch meistens aus, selbst in dem mit "Hope!" betitelten Pavillon der Ukraine. Sehr viel Hoffnung gibt es dort zur Zeit tatsächlich nicht, der Titel ist wohl sarkastisch gemeint oder eher der Schrei nach einer besseren, friedlicheren Welt. Manche Künstler gehen das Thema selbstironisch an wie Filip Markiewicz. Im luxemburgischen Pavillon in der Ca' del Duca stellt er unter dem Zitat von Oscar Wilde: "The world is a stage but the play is badly cast" das "Paradiso Lussemburgo" vor, ein Paradies der Steuerzahler oder wohl eher Steuervermeider, in dem auch Jean-Claude Juncker und Yannis Varoufakis ihren Auftritt haben. Aserbaidschan präsentiert sich an zwei Orten, im Palazzo Lezze sowie in der Ca' Garzoni, dem grösseren und interessanteren Ausstellungsort, in dem sich längst etablierte Künstler wie Tony Cragg, Julien Opie, Andy Warhol, Erwin Wurm und viele andere mit Umwelt- und Klimafragen auseinandersetzen. Andreas Gursky dokumentiert den weltweiten Kapitalismus in seinen Fotografien von der "Tokyo Stock Exchange", der Tokioter Börse, und im Zentrum des deutschen Pavillons nimmt sich der Film "Out on the Street" von Philip Rizk und Jasmina Metwaly ägyptischer Arbeiter an, deren Fabrik weit unter Wert an private Investoren verkauft wird; die Fabrik wird abgerissen, die Arbeiter verlieren ihre Existenz. Ob wohl viele Besucher die Zeit und die Geduld aufbringen, sich den 70minütigen Film anzuschauen? Auch in der Überfülle an Kunstwerken in den Hallen des Arsenale
geht vieles unter.
Dies ist eine kurze Einstimmung auf die Biennale. Krisen sind überall, auch in Venedig gibt es derzeit kaum ein anderes Thema. Die Kunst scheint von der Not zu profitieren.
Den Niedergang anhand eines privaten Schicksals führt uns Maria Papadimitriou im griechischen Pavillon in den Giardini vor Augen. "Why look at animals? Agrimika" nennt sie ihre Installation. Agrimika ist eine Ableitung von Agrimi, der nur auf Kreta beheimateten Wildziege. Gewöhnlich wird Agrimi als Bezeichnung für Wildtiere verwendet, die zwar mit dem Menschen koexistieren können, sich aber nicht domestizieren lassen, etwa Bären und Wölfe oder auch Frettchen und Dachse.
Papadimitriou hat den Laden und die Werkstatt eines Pelzhändlers aus Volos Stück für Stück in den Pavillon verpflanzt - einschließlich alter verblichener Zeitungsartikel und Familienfotos, Kinderzeichnungen, angejahrter Notizzettel, ausgestopfter Tiere und Bärenfellen. Dimitris Ziogos, der jetzige Eigentümer, nahm 1947 eine Stelle als Verkäufer bei seinem Vorgänger an und führte das Geschäft nach dessen Tod übergangslos weiter. Das verstaubte, altmodisch-ärmliche Geschäft war lange Jahre ein florierendes Unternehmen. In dem begleitenden Video erzählt er aus seinem langen Arbeitsleben und wie er die Zeitläufte - Krieg, Bürgerkrieg, Diktatur, Unheil und Verzweiflung, aber auch die kleinen Freuden des Alltags - erlebt und überlebt hat. Er beschreibt den schleichend einsetzenden Niedergang - lange vor der jetzigen Krise -, wie in den neunziger Jahren ein Pelzgeschäft nach dem anderen schliessen musste, bis nur noch eine Färberei und sein Laden übrig blieben. Er spricht ohne Larmoyanz, altersweise, in sich ruhend. Es ist ein langes bewegendes Leben, das den Besucher in leiser Wehmut zurücklässt.
Die Installation Maria Papadimitrious nimmt keinen expliziten Bezug auf die jetzige Krise in Griechenland. Das wäre zu banal. Man darf das Werk darauf beziehen, muß es aber nicht. Jeder Besucher soll sich sein eigenes Bild machen.
Die 1957 in Athen geborene Künstlerin gehört zu den erfolgreichsten griechischen Künstlerinnen der Gegenwart. Sie lebt und arbeitet in Athen und Volos, wo sie Professorin für Kunst und Umwelt an der Universität von Thessalien ist. 2003 gewann sie den Deste-Preis für zeitgenössische griechische Kunst für ihre kontinuierliche Arbeit mit sozialen und kulturellen Belangen, die das gegenwärtige Leben analysieren, wie das TAMA-Projekt (Temporary Autonomous Museum for All), für das sie ausgezeichnet wurde. Mit diesem Projekt repräsentierte sie Griechenland 2002 auf der Biennale in Sao Paulo. Ihre Kunst wird weltweit in renommierten Museen und Galerien ausgestellt, darunter in London, Madrid, Rom, Brüssel.
Die Biennale dauert vom 9. Mai bis zum 22. November 2015. Die meisten Länderpavillons befinden sich in den Giardini, etwa ein Drittel in den Hallen des Arsenale und die übrigen Ausstellungen verteilen sich auf Häuser oder Palazzi über die Stadt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen