Mittwoch, 8. Mai 2013

Exarchia

Exarchia - einfach traurig


Es sah hier nicht immer so aus. Noch vor einigen Jahren war Exarchia ein  bürgerliches Alt-Athener Wohnviertel, dessen schattige Strassencafes an der Platia Exarchion man tagsüber gern aufsuchte, wenn man sich erschöpft vom Besuch im  Archäologischen Nationalmuseum erholen oder einfach nur eine Kaffeepause einlegen und beim geschäftigen Treiben rundum entspannen wollte. Abends genoss man das Nachtleben in den angesagten Bars und populären Clubs und wusste die alteingesessenen Tavernen zu schätzen, die gutes griechisches Essen ohne modischen Schnickschnack zu günstigen Preisen servierten. Alles hatte etwas Beschwingtes, Begeisterndes, Heiteres und gleichzeitig sympathisch Kleinstädtisches, wo ein jeder jeden kennt. Das Publikum - vorwiegend hier wohnende Studenten, Künstler, (Links-)Intellektuelle  - war jung, kreativ, diskutierfreudig, von mitreissender Vitalität und vor allem griechisch. Hier konnte man Stunden zubringen, ohne einem Touristen zu begegnen.  Die blieben seit je im überlaufenen Altstadtviertel Plaka unter sich. Kaum einer verirrte sich in die unprätentiöse Alternative Exarchia.

Heute tun sie recht daran, die Plaka-Touristen. Es ist kaum zu glauben, wie stark sich Exarchia verändert hat. Die politische und soziale Krise ist hier am sichtbarsten. Schon tagsüber stimmt einen der Gang durch die tristen Strassen wehmütig, Lebensfreude war einmal, Normalität auch. Das ganze Viertel wirkt bedrückend und trostlos, die Verelendung ist augenscheinlich geworden. Illegale, die illegale Waren verkaufen  - Sonnenbrillen, Taschen, Handys, Zigaretten -, bestimmen das Strassenbild. Allerlei ominöse Gestalten sind unterwegs. In der Stournaristrasse, auf dem Zaunsockel vor dem Polytechnion, lagern jämmerliche Gestalten im Halbkoma, Rauschgiftsüchtige, die sich Heroin spritzen. Deren Dealer, meist Schwarzafrikaner, gehen in aller Öffentlichkeit ihren Geschäften nach. Abends ist das Viertel tot, die dämmrigen Lokale sind leer. Man begegnet nur wenigen Passanten. Die engen Hauseingänge haben Obdachlose in Besitz genommen. Automatisch beschleunigt man den Schritt, wenn man durch die dunklen Gassen geht. Man fühlt sich unwohl und möchte nichts wie weg.

Verunstaltet sind auch die einst sorgfältig gepflegten Bürgerhäuser. Fast ausnahmslos jedes Gebäude - so scheint es einem jedenfalls - ist mit grellen Graffiti beschmiert, die Hauswände sind zentimeterdick mit Plakaten und Parolen zugekleistert, die zu Streiks und Demonstrationen sowie zum Klassenkampf aufrufen. Kein Fleckchen Mauer bleibt ungenutzt. Manche Häuser sind besetzt. Auch die schönen neoklassizistischen Stadtvillen an den charmanten steilen Treppengassen blieben nicht verschont. Bei vielen sind die Rollläden herabgelassen und die Haustüren mit schweren Eisenketten versperrt. Sie sehen verlassen aus.

Exarchia war immer ein buntes, alternatives Szeneviertel, in dem von jeher Widerstand gegen Obrigkeiten geleistet und gegen alles Mögliche opponiert wurde. Aber der Alltag war normal. Die im Herbst 1973 von hier ausgehenden Protestaktionen haben den Sturz der sieben Jahre währenden Obristenregierung eingeleitet. Am 14. November demonstrierten Hunderte Studenten gegen die Militärdiktatur. Unterstützt von der Athener Bevölkerung, verschanzten sie sich drei Tage lang auf dem Gelände des Polytechnion, bis das Regime in der Nacht des 17. November seine Panzer anrollen liess. Sie walzten die Tore nieder, und Scharfschützen der Polizei nahmen den Hof unter Beschuss. Zahlreiche junge Leute starben, wieviele Menschen getötet wurden, ist nie genau geklärt worden. Manche sprechen von 35 oder 40, andere von 20 Toten, die Angaben differieren. Ein Denkmal im Hof erinnert an sie. Heute macht auch das Polytechnion einen vernachlässigten Eindruck, im Garten wuchern Unkraut und Gestrüpp. Die meisten Fakultäten sind schon vor einigen Jahren nach Zografu umgezogen, nur die Architekten und die Bibliothek sind geblieben.

Nach dem Sturz der Militärherrschaft wurde das Universitätsasyl eingeführt, das es der Polizei verbot, Universitätsgelände auch nur zu betreten. Das war eine schöne Idee. Doch was damals zum Schutz der Studenten sinnvoll erscheinen mochte, erwies sich in den folgenden Jahren als fatal. Das Asylrecht wurde derart ausgehöhlt, dass von der schönen Idee nicht viel übrig blieb. Mehr und mehr entwickelten sich die Hochschulen des Landes zu rechtsfreien Räumen für gewaltbereite Anarchisten, Linksextremisten und Berufsrevoluzzer, die sich nach ihren sinnlosen Gewaltorgien und Zerstörungszügen auf das sichere Hochschulterrain flüchteten. Die Regierung blieb tatenlos und die Polizei war machtlos. In einer misslichen Lage befanden sich auch die Universitätsrektoren, die sich nicht trauten, gegen die radikalen Gruppierungen vorzugehen, weil sie Gewalt und Anschläge im eigenen Haus fürchteten. Diese Sorge war berechtigt, denn den terroristischen Organisationen gelang es nicht selten, das akademische Leben komplett lahmzulegen; sie stürmten Vorlesungen, machten aus Hörsälen und Seminarräumen Kleinholz und scheuten nicht davor zurück, auch Professoren tätlich anzugreifen, deren Forschungen ihnen nicht genehm waren. 2005 nahmen vermummte "Autonome" während einer Lesung sogar den späteren Finanzminister Venizelos kurzzeitig in "Geiselhaft". Erst nachdem eine hilflose Polizei ihnen freien Abgang zugesichert hatte, liessen sie ihn gehen. 2011 hat die Pasok-Regierung diesem empörenden Missbrauch nach mehreren vergeblichen Anläufen endlich ein Ende bereitet. Das gesetzlich verankerte Universitätsasyl wurde abgeschafft.

Exarchia ist keine Gegend mehr, in der man sich gerne aufhält. Die Situation hat sich noch verschärft, seit am Abend des 6. Dezember 2008 der 15jährige Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten erschossen wurde, angeblich versehentlich durch einen Querschläger. Der Todesschuss auf den Schüler, ein halbes Kind noch, war nur der Funke, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte: die über Jahre angesammelte Wut auf den abgewirtschafteten Staat brach sich Bahn, auf die korrupte politische Kaste, das rückständige und ungerechte Bildungswesen, die Misswirtschaft insgesamt und die unfähige Bürokratie, die es bis heute nicht geschafft hat, die alltägliche Steuerhinterziehung speziell der Reichen in den Griff zu bekommen. Der Zorn auf das inhumane System, der schon lange unter der Oberfläche schwelte, löste die schwersten Unruhen seit der Militärdiktatur aus. Eine ungeheure Protestwelle griff auf das ganze Land über, vor allem in den Städten kam es zu schlimmen Ausschreitungen und Strassenschlachten mit der Polizei.

Auch wenn sich die Lage insgesamt inzwischen beruhigt hat, vergessen ist der Vorfall nicht. Vor allem nicht in Exarchia. Dort hat man an dem Haus an der Ecke Mesolongiou/Tsavela, vor dem Alexis oder Gregory, wie ihn seine Freunde nannten, von der tödlichen Kugel getroffen wurde, eine schwarze Gedenktafel mit einem Bild des Jugendlichen und einer Inschrift angebracht, vor das die Menschen noch immer Blumen niederlegen. Sympathisanten haben das Strassenschild ausgetauscht: Die Odos Mesolongiou heisst jetzt Alexandrou-Grigoropolou-Strasse.

Inzwischen meiden auch Athener selbst dieses Viertel. Manche, die in den wohlhabenden Villenvororten im Norden leben, fahren nicht einmal mehr in das Athener Zentrum: "Ich war schon über ein Jahr lang nicht mehr dort" sagte mir ein in Kifisia wohnender Arzt. "Die ewigen Demonstrationen und die Strassenschlachten der Autonomen mit der Polizei sehe ich mir im TV an."  Das scheint mir stark übertrieben zu sein. Denn abgesehen von wenigen Quartieren ist Athen immer noch eine sichere Stadt. Im Nachbarviertel von Exarchia, in Kolonaki, pulsiert das Leben wie eh und je, in den Cafes und Restaurants findet man zu keiner Zeit kaum einen Platz. Dasselbe gilt für die anderen Stadtteile im Zentrum, ausgenommen eben Exarchia und die Gegend um den nahen Omoniaplatz.

      

2 Kommentare:

  1. Dieses Bild von exarchia ist meiner Meinung nach zu negativ gezeichnet und entspricht nicht in allen Punkten der Wahrheit. Ich habe während der Krise vier Jahre 2008 - 2012 unweit von der Platia exarchia als deutscher gelebt. Viele Freunde kennengelernt und mir ist hier nie etwas passiert. Freunde, die in anderen Vierteln leben berichteten mir immer wieder von Einbrüchen, nie gehört in exarchia. Auch heute wo ich zu Besuch bin erlebe ich exarchia voller Leben und gastfreundlich. Die Gespräche in exarchia inspirieren mich mehr als, das neureiche Kolonaki, was mehr Schein als Sein hat.
    2014: viele Neueröffnung in der Stadt, die Athene haben wieder Mut und Lebensfreude zurückgefunden. Plötzlich bekommt man für jeden Kauf auch ein Quittung :-) .... Exarchia ist auch irgendwie ein Stück Heimat für mich geworden....
    Aber mit dem omoniaplatz da gebe ich Ihnen recht....

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  2. Es ist nicht mehr ganz so schlimm wie noch vor anderthalb Jahren. Das stimmt. Aber immer noch sind die Drogenabhaengigen und Dealer hier. Am Wochenende kommen dann die Leute aus Kolonaki, die sich dort langweilen und hier was erleben wollen.

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