Die Akropolis besucht, in dem grossartigen Akropolismuseum, im Archäologischen Nationalmuseum und im Kykladenmuseum gewesen - die Antike also gewissenhaft abgehakt. Und was nun? Wie wäre es mit einem Kontrastprogramm, nämlich nach soviel Altertum einen Blick auf die zeitgenössische Kunst zu werfen? Athen ist nicht New York, ein dem Museum of Modern Art vergleichbares Haus gibt es hier - noch - nicht. Das neue Museum für zeitgenössische Kunst wartet nun schon seit Jahren auf seine Eröffnung im umgebauten Fix-Gebäude, es ist seit langem provisorisch untergebracht. Da es in der jetzigen Krise auf staatliche Finanzierung kaum hoffen kann (wobei das staatliche Engagement für Modernes schon vorher verschwindend gering war), ist es in der Geldbeschaffung mehr denn je auf private Kulturförderer angewiesen, um die laufenden Personal- und Betriebskosten zu decken. Jetzt soll es im Jahr 2016 seinen Betrieb aufnehmen. Man wird sehen. In der Zwischenzeit trösten wir uns mit den Glanzlichtern, die es tatsächlich auch in der Gegenwartskunst in Athen gibt, nämlich mehrere aufregende Privatsammlungen und ein Trupp einflußreicher Galeristen, denen großartige Ausstellungen und Inszenierungen gelingen.
Das sind zuallererst die Deste-Foundation von Dakis Ioannou, die Neon-Stiftung von Ioannis Daskalopoulos und der sammelnde Reeder und Investor George Economou, der für seine Kunstwerke 2012 ein eigenes hochmodernes Haus direkt hinter seinem Firmensitz in Maroussi baute und für Besucher öffnete. Ohne diese drei Großsammler geht in der Athener Kunstwelt gar nichts. Sie präsentieren die Werke weltberühmter Künstlerstars nicht nur im eigenen Haus (wie Ioannou und Economou), sondern auch an anderen Orten, z.B. im Kykladenmuseum, im Benakimuseum an der Piräosstraße oder in der Kommunalen Galerie. So hat George Economou 2012 ausgewählte Teile seiner Sammlung zum ersten Mal in der Kommunalen Galerie in Metaxourgio der Öffentlichkeit vorgeführt. Es war ein künstlerisches und zugleich soziales Ereignis, der Publikumsandrang war immens. Daskalopoulos hat kein eigenes Haus, aber er kreiert Ausstellungen speziell für bestimmte Orte wie im Jahr 2014 auf der Römischen Agora. Man achte also auf die Ankündigungen in den Programmheften und Zeitungen wie der deutschsprachigen Griechenland Zeitung, um solche Ereignisse nicht zu verpassen.
Es gibt drei Kunstorte in Athen, in denen sich die meisten Galerien niedergelassen haben: das zentrumsnahe Kolonaki, das Viertel Thission unterhalb der Akropolis und die ärmeren, einander benachbarten Viertel Metaxourgio und Kerameikos. Beginnen wir mit Kolonaki. Nur fünf Minuten vom Sintagmaplatz entfernt befindet sich in der Merlinstrasse (Odos Merlin) eine zwar sehr kleine, aber stets mit den Werken der weltweit teuersten Maler-Ikonen oder vielversprechender Jung-Stars bestückten Galerie des Kunsthändler-Tycoons Larry Gagosian, der seinen Einfluß inzwischen auf fünfzehn Niederlassungen in sieben Ländern auf drei Kontinenten ausgeweitet hat. Gerade eben - Oktober 2015 - hat er seine dritte Filiale in London eröffnet, im feinen Viertel Mayfair.
Am von hier aus fünf Minuten entfernten Kolonakiplatz ist eine der ältesten Athener Galerien, Zoumboulakis, zu Hause. Zoumboulakis wurde schon 1912 gegründet und stellt vor allem griechische Künstler aus, die bereits international bekannt sind, etwa Yannis Moralis, Yannis Psychopaidis, Takis und Vlassis Caniaris. In der nahen Odos Kriezotou 7 hat Zoumboulakis eine Zweigstelle eingerichtet, ein Ladengeschäft, in dem Multiples, kleinere Kunstobjekte, Grafik und Poster beliebter griechischer Künstler, z.B. von Alekos Fassianos, verkauft werden. Ebenfalls in der Kriezotou - neben dem Geschenkeladen des Benakimuseums, wo man ebenfalls hübsche kleine künstlerische Arbeiten kaufen kann - hat die Frissiras-Galerie eröffnet, die sich um griechische und internationale Künstler kümmert. (Wer sich für die Klassische Moderne interessiert, sollte die ständige Ausstellung der Werke von Nikos Hadjikyriakos-Ghikas besuchen, einem der bedeutendsten griechischen Künstler des 20. Jahrhunderts, der - 1906 geboren - im Haus daneben bis zu seinem Tod 1994 lebte und arbeitete.) Die kurze Kriezotou-Straße ist eine kleine Kunstmeile geworden.
Eine feste Größe im Athener Kunstbetrieb ist die seit 1995 bestehende Kalfayan-Galerie (Odos Haritos 11), die sich auf die griechische, balkanische sowie die zeitgenössische Szene der MENASA-Region (Middle East North Africa South Asia) spezialisiert hat. Einer dieser Künstler ist der 1973 in Damaskus geborene Hair Sarkissian, dem schon mehrere Aussstellungen gewidmet waren. Kalfayan ist es ein Anliegen, die griechische Kunst voranzutreiben und die lokalen Künstler, die von den internationalen Strömungen noch immer weitgehend abgeschnitten sind, auch wenn sich dank privater Initiativen in den letzten Jahren einiges getan hat, über Griechenland hinaus bekannt zu machen. So unterhält sie gemeinsame Projekte mit anderen europäischen Galerien, z.B. Esther Schipper in Berlin, arbeitet zusammen mit Museen und Kunsteinrichtungen wie der Tate Modern in London, der Kunsthalle Wien, dem New Museum in New York, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Außerdem ist sie ständiger Gast auf so bedeutenden Kunstgroßereignissen wie den Biennalen von Venedig und Istanbul, die trotz der Biennalen-Inflation - es gibt inzwischen 105 - mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, von Tampere, Art Brussels, Art Basel Hongkong, Art Basel Miami (wo sie 2014 Hair Sarkissian zu Aufmerksamkeit verhalf), The Armory Show in New York und anderen.
Überzeugende Veranstaltungen gelingen immer wieder Eleni Koroneou (Dimofontos 7, Thissiou-Viertel). Seit 1989 macht sie die Athener mit bedeutenden internationalen Künstlern bekannt, aber ihr Galeristenherz schlägt auch für die jüngeren griechischen Maler, denen sie erfolgreich zu angemessener Anerkennung verhilft. In ihrem Programm sind einige der wichtigsten Künstler der Gegenwart vertreten, darunter Helmut Middendorf, Dieter Roth, Martin Kippenberger, Michel Majerus, Christopher Wool, John Bock, Liam Everett, Yorgos Sapountzis, die sie in regelmäßigen Solo- und Gruppenausstellungen - beispielsweise 2015 in "Family and Friends" - Revue passieren läßt. Allen begegnet man in bedeutenden Museen und Ausstellungshäusern weltweit oder sie waren Teilnehmer an der Documenta und den Biennalen in Venedig und Istanbul. Der in den achtziger Jahren zu den "Jungen Wilden" gehörende Helmut Middendorf beispielsweise hatte allein 2015 drei vielbeachtete Auftritte: im Frankfurter Städel ("Die 80er. Figurative Malerei in der BRD"), im Münchner Haus der Kunst ("Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland") und im Museo del Novecento am Domplatz in Mailand. Auch Eleni Koroneou nimmt an namhaften Kunstmessen teil, darunter der Art Brussels, Art Cologne, Arco Madrid, Art Basel und Art Basel Miami.
Noch etwas älter als Koroneou ist die nahe Galerie Bernier/Eliades (Eptachalkou 11), die 1977 gegründet wurde und seitdem die zeitgenössische Kunst pflegt. Jean Bernier und Marina Eliades zeigen vor allem die Werke griechischer Künstler, die im Ausland Karriere gemacht haben, darunter Alexis Akrithakis, dessen Anfänge in Berlin liegen, und Ioannis Kounellis, der seit Jahrzehnten in Rom lebt und ein Hauptvertreter der Arte Povera ist. Sie bringen aber auch die westliche Kunstwelt in die Hauptstadt: das Künstlerpaar Gilbert and George, Richard Long, Mario Merz sowie die Deutschen Jonathan Meese, Daniel Richter, Ulrich Rückriem und Thomas Schütte, dem sie 2015 eine Einzelschau widmeten. Bernier/Eliades arbeiten ebenfalls mit anderen europäischen Galerien zusammen und nehmen an den großen Messen teil, u.a. der Art Basel, noch immer die bedeutendste Kunstmesse weltweit.
Der Standortvorteil der beiden ärmeren Stadtviertel Kerameikos und Metaxourgio sind verwaiste Häuser und bezahlbarer Wohnraum, Anzeichen für eine Gentrifizierung sind nur wenige auszumachen. Junge Kreative aus ganz Europa und den USA strömen hierher, seitdem die Mieten vor allem in New York und London ins Astronomische geschnellt sind. Sie bereichern die griechische Kunstszene, lockern verfestigte traditionelle Grenzen, machen sie internationaler. In den versteckten Studios, Laden- und Werkstattateliers schlummern vielleicht die Talente von morgen und der Markt giert danach, sie zu entdecken. Aber noch ist kommerzieller Erfolg den wenigsten beschieden.
Abgesehen von der staatlichen Kommunalen Galerie am Avdiplatz, deren Sammlung vor allem Werke griechischer Maler des 19. Jahrhunderts umfasst, haben sich hier zwei Athener Galerien niedergelassen, Rebecca Camhi (Leonidou 9) und vor allem The Breeder (Iasonos 45), deren Eingang - hinter einer schweren Stahltür ohne jeden Hinweis, was einen dahinter erwartet - man leicht übersehen kann, zumal man keinen Kunsttempel hier vermutet, denn die stille Iasonos-Straße gleicht einem Potemkischen Dorf: Man glaubt sich in eine Idylle versetzt, spaziert an kleinen zweistöckigen Häusern mit schönen klassizistischen Fassaden und kunstvollen schmiedeeisernen Balkonen vorbei, und dann der Schock: dahinter ist nichts. Es sind Ruinen.
The Breeder, 2002 von Stathis Panagoulis und Jorgos Vamvakidis gegründet, befindet sich in einer ehemaligen Eisfabrik aus den siebziger Jahren. Den hochmodernen Innenraum gestaltete der Architekt Aris Zambikos, der dafür einen Preis bekam. Auch The Breeder verfügt über gute internationale Kontakte, vertritt westeuropäische ebenso wie griechische Künstler, darunter Vlassis Caniaris, der momentan überall hoch im Kurs steht, und die jüngere Generation, etwa Hope, der als Strassenkünstler in Athen begann, oder Angelo Plessas, der 2015 den Deste-Preis gewann. Zu The Breeder gehört auch das poppige Lokal "Breeder Feeder", das Stathis Panagoulis nicht so sehr als Restaurant, sondern mehr als Projektraum sieht. Hier isst man immer wieder anders - vegetarisch, vegan, japanisch, peruanisch - je nach Küchenchef, der, so ist das Konzept, regelmäßig wechselt.
Rebecca Camhi besteht seit 1995, 2008 hat sie ihr jetziges Domizil, das kleine neoklassizistische Gebäude in Metaxourgio (Leonidou 9) bezogen. Von Anfang ihres Bestehens an vertrat sie so prominente Künstler wie Nan Goldin, Julian Opie, Rita Ackermann, Bill Owens und andere sowie Takis, Angelo Plessas, Nikos Alexiou und die in New York und Athen lebende Deanna Maganias, die das Athener Holocaust-Denkmal (oberhalb des antiken Kerameikos-Friedhofs) schuf. Auch Camhi ist aktiv im internationalen Austausch tätig und nimmt an allen wichtigen Messen wie der Londoner Frieze, Arco, Art Basel, Art Brussels, der New Yorker The Armory Show und der jährlich stattfindenden Messe Art Athina teil, die 1994 aus einer Privatinitiative einheimischer Galeristen hervorging und einen guten Überblick über das griechische Kunstschaffen vermittelt. So gut wie alle Athener Kunsthändler sind regelmäßig dort vertreten, das Ausland bleibt - noch - eher fern. Auch die 2005 gegründete Athener Biennale wird außerhalb Griechenlands nicht so richtig wahrgenommen. Das könnte sich mit der 5. Biennale 2015 ändern, die nicht nur wie üblich einige Monate laufen wird, sondern - gedacht als Ideen- und Experimentierwerkstatt - zwei Jahre lang, bis 2017. Dann beginnt die Documenta 14, die diesmal nicht wie die vergangenen 70 Jahre nur in Kassel stattfindet, sondern als gleichberechtigten Ausstellungsort die griechische Hauptstadt gewählt hat. Dort startet sie im April, zwei Monate eher als in Kassel, wo sie Anfang Juni eröffnet wird. Die Weltkunstausstellung steht unter dem Motto "Von Athen lernen". Sie könnte Athen zu einem kräftigen Schub verhelfen.
Athen ist ein aufregender Ort für Gegenwartskunst geworden, es ist noch nicht so glatt und kommerziell wie an anderen Orten. Natürlich wird der kulturelle Vorsprung Westeuropas nicht so schnell aufzuholen sein, zumal die staatliche Unterstützung fehlt. Man muß das bedauern, denn es würde sich rechnen. Aber die Athener Kunstwelt ist nicht mehr gänzlich isoliert. Und eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.
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