Samstag, 21. November 2015

Massaker in Epiros: Die 49 von Paramythia

Paramythia ist eine hübsche Kleinstadt im gebirgigen Nord-Epirus, ca. 70 km von der Hafenstadt Igoumenitsa entfernt, wo die Fähren nach Korfu, Patras und Italien ablegen. Sie liegt zwischen den Flüssen Kalamas (auch Thyamis) und Acheron, dem mythischen antiken Totenfluß, über den der Fährmann Charon die Verstorbenen in das Reich der Toten, den Hades, gerudert hat. Heute ist die Gegend beliebt für Trekking-Touren. Paramithia hat einige Sehenswürdigkeiten - Reste der Akropolis, den spätbyzantinischen Koulia-Turm, die dreischiffige byzantinische Panagia Paramithia, den venezianischen Uhrturm von 1750 -, doch abgesehen von den Italienern, die hier im Herbst auf Singvögel schießen, verirren sich Touristen eher selten hierher. Vögel sind denn auch das Wahrzeichen des Städtchens, allerdings nicht die von den Italienern als kulinarische Delikatesse vom Himmel geholten, sondern Störche. Mit rund vierzig Nestern auf Bäumen und Hausdächern ist es ein wahres Storchenparadies. Es sind Weißstörche, die sich ab Mitte August in ihre Winterquartiere nach Afrika aufmachen und im Frühjahr zurückkehren. Der Storch wurde schon in der Antike hoch geachtet, weil er sich - Sinnbild der kindlichen Dankbarkeit - um seine alten Eltern kümmerte. Aristophanes läßt ihn in seinem Stück "Die Vögel" sagen: "Wer beißt die Mutter ins Bein und beschert euch den Segen? Der Storch ist's." Die Bürger sind mit ihren Störchen so verwachsen, daß manche sogar, wie Vize-Bürgermeister Dimitri Mamouris, der die Zukunft der Stadt im Alternativen Tourismus sieht, ein Storchenemblem auf ihrer Visitenkarte haben.

Stolz ist Paramithia auch auf den hier geborenen Goldschmied Sotirios Voulgaris (1857-1932), den Gründer der weltweit bekannten Luxusmarke Bulgari. 1877 verließ er seinen Heimatort, ging zunächst nach Korfu, dann nach Neapel und 1881 nach Rom, wo er mehrere Goldschmuckläden eröffnete und seinen Namen in Bulgari änderte. Sotirios Voulgaris stiftete Paramithia eine Schule, die seinen Namen trägt.

Im Zweiten Weltkrieg ereignete sich während der deutschen Besatzung Entsetzliches in der Stadt. Nachdem die 1. Gebirgsdivision ("Edelweiß-Division") der Wehrmacht am 16. August 1943 317 Zivilisten jeden Alters und Geschlechts in dem epirotischen Dorf Kommeno exekutiert hatte, erschoss sie sechs Wochen später, am 29. September 1943, unter dem üblichen Vorwand von "Sühne- und Vergeltungsmaßnahmen" 49 Bürger von Paramithia. Die Liste mit den Namen der Todeskandidaten hatten zwei Brüder, die muslimischen Tsamen Nuri und Mazar Dino - letzterer war Polizist in Paramithia - zusammengestellt, die schon vorher durch gewalttätige Exzesse aufgefallen waren. Anlaß für die Racheaktion waren sechs in einem Gefecht mit Partisanen gefallene Soldaten der Wehrmacht. Warum gerade 49? Am 27. September um Mitternacht wurden 52 Männer verhaftet und am frühen Morgen des 29. September von einem gemeinsamen Trupp Deutscher und Tsamen auf einen Platz etwas außerhalb der Stadt geführt, wo bereits zwei Massengräber ausgehoben waren. Dort steht heute das Denkmal für die Opfer; alljährlich finden hier ergreifende Trauerfeierlichkeiten statt, um die Erinnerung wach zu halten. Der deutsche Offizier, der das Erschießungskommando befehligte, ließ im letzten Ausgenblick drei Gefangene frei, weil er glaubte, sie könnten den Deutschen handwerklich von Nutzen sein. Das konnte er, weil einige Tage zuvor elf Bürger der Präfektur Paramithia erschossen worden waren, so daß die geforderte Zahl sechzig - zehn Griechen für einen deutschen Soldaten - erreicht wurde. So ging die Rechnung auf. In den "Abendmeldungen der Truppe" vom 29. September hieß es: "In Paramithia wurden 50 (sic!) Griechen als Vergeltungsmassnahme für den Überfall am 20.9. auf vorgehenden Spähtrupp westl. Bez.P. 124 erschossen. 149 gefangene Italiener nach Bisduni in Marsch gesetzt." Nach der Kapitulation Italiens waren die ehemaligen Verbündeten zu Gegnern geworden.

Kaum ein Deutscher hat je von den Kriegsverbrechen in Griechenland geschweige denn von Paramithia gehört. Wenn überhaupt, so erreichten die NS-Greuel in den Bergstädtchen Distomon bei Delphi oder Kalavrita im Norden des Peloponnes eine gewisse Aufmerksamkeit, wo die Deutschen 228 und 511 Einwohner in einem Rachefeldzug niedermetzelten, in Distomon wahllos Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, in Kalavrita alle Männer und männlichen Jugendlichen im Alter von 13 bis 77 Jahren. Damit hatten sie die gesamte männliche Bevölkerung ausgerottet. Die Namen beider Orte kennen die Deutschen aber wohl erst durch die von Hinterbliebenen angestrengten Entschädigungsprozesse, die durch die Presse gingen, Kalavrita zusätzlich durch den Besuch von Bundespräsident Johannes Rau im April 2000. Joachim Gauck tat es ihm nach. Er besuchte im März 2014 das epirotische Dorf Lingiades, wo am 3. Oktober 1943 87 Menschen, ebenfalls von Angehörigen der 1. Gebirgsdivision, ermordet wurden. Beide Bundespräsidenten fanden zwar viele schöne Worte wie "Trauer und Scham" (Rau) oder "Scham und Schmerz" (Gauck), die üblichen wohlfeilen Betroffenheitsformeln, die zum Standardrepertoire der Politiker gehören, aber abgesehen davon blieben die Besuche folgenlos. Im Gedächtnis haften bleibt höchstens das peinliche Foto, auf dem der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias die Umarmung Gaucks brüsk abschüttelte. Es ging durch alle Medien.

Alle Schadenersatzansprüche von Opfern der Wehrmachtsverbrechen wurden von den deutschen Gerichten abgewiesen, 2007 auch vom Europäischen Gerichtshof und 2012 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Es bestätigte in einem Grundsatzurteil, daß Klagen von Privatpersonen gegen einen Staat nach dem geltenden Völkerrechtsprinzip der Staatenimmunität unzulässig seien. Das heißt, die Staatenimmunität gilt sogar in Fällen von Kriegsverbrechen.

Das Massaker von Paramithia hat aber noch eine andere, sehr traurige Dimension, wie sie nirgendwo sonst in Griechenland in Erscheinung getreten ist. Denn hier waren die Täter nicht nur die deutschen Besatzer, sondern die albanisch-muslimischen Mitbürger und Nachbarn der christlichen Einwohner, die "Tsamen". Sie spielten eine schändliche Rolle, indem sie während der gesamten Besatzungszeit 1941-44 zuerst mit den Italienern und nach der Kapitulation Italiens Anfang September 1943 mit den Deutschen kollaborierten. Im Juni 1941 gründeten sie die Albanische Faschistische Partei Thesprotiens sowie die Albanische Faschistische Jugend, deren Sitz Paramithia war. Die Tsamen verbreiteten Angst und Schrecken, Raub und Gewalttaten waren an der Tagesordnung. Sie vertrieben die christlichen Verwaltungsbeamten systematisch aus ihren Stellungen und besetzten sie mit eigenen Leuten. Ihre Absicht war es, die politische Macht in Thesprotien zu erlangen. Als der Niedergang Nazi-Deutschlands absehbar war, zogen sie sich nach Albanien zurück. Einen der Hauptdrahtzieher, Masar Dino, verurteilten die Albaner zum Tode.

Als einziger Deutscher wurde im Rahmen des Nürnberger Prozesses General Hubert Lanz 1948 zu zwölf Jahren Haft verurteilt, und zwar für alle Verbrechen der ersten Gebirgsdivision unter seinem Kommando. Darunter fällt neben den epirotischen Massakern auch das "Gemetzel von Kefallinia", wo die Gebirgsjäger im September 1943 5200 italienische Kriegsgefangene liquidierten. Doch schon 1951 war Lanz wieder auf freiem Fuß. Er trat in die FDP ein, war ihr Berater in militär- und sicherheitspolitischen Fragen und wurde 1952 Ehrenvorsitzender des Kameradenkreises der Gebirgstruppe, die ihre alljährliches Pfingsttreffen im bayerischen Mittenwald abhielten und ihrer gestorbenen Mörder-Kameraden gedachten. Kein einziger der anderen Täter ist jemals von bundesdeutschen Gerichten schuldig gesprochen worden. Alle anhängigen Ermittlungsverfahren wurden halbherzig geführt, verschleppt und schließlich eingestellt.

Insgesamt gibt es in Griechenland 93 Märtyrerstädte, in denen während der deutschen Besatzung 1941-45 brutale Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen, die Häuser geplündert, die Orte niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht wurden.














Sonntag, 15. November 2015

Die Insel Spetses - ein stilles Refugium

Spetses, die üppig grüne, sanft hügelige argo-saronische Insel, hat ebenso wie das nördlichere Hydra keine antiken Überreste, aber ebenso wie diese eine große Seefahrertradition. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es eine reiche Insel, die vom Schiffbau und vom Getreidehandel mit ganz Europa und dem südlichen Rußland lebte und besonders zur Zeit der Kontinentalsperre, die die geschäftstüchtigen, gerissenen Griechen skrupellos durchbrachen, riesige Vermögen anhäufte. Nachdem die Reeder und Kapitäne - manche sollen so reich gewesen sein, daß sie ihren Schiffsballast mit Goldmünzen verstärkten - sich anfangs prächtige Villen gebaut und im Luxus gelebt hatten, zögerten sie nicht, ihren gesamten Reichtum für die Freiheit Griechenlands einzusetzen. Zusammen mit Hydra und Psara nahmen die Spetsioten als erste mit über 50 Schiffen 1821 am Unabhängigkeitskrieg teil. Die Kanonen am zentralen Hafenplatz, der Dapia, erinnern daran. Den Aufstand gegen die Türken führte eine Frau an, die legendäre Laskarina Bouboulina (1771-1825), zweimal verwitwet und siebenfache Mutter, deren "Agamemnon" das größte Schiff der griechischen Marine war. Ihr von Kanonen bewehrtes Wohnhaus, jetzt im Besitz der vierten Enkel-Generation, ist als Museum eingerichtet, ebenso das 1795 erbaute Mexis-Herrenhaus (Hatzigiannis Mexis war Reeder und erster Gouverneur der Insel), in dem man eine von dem deutschen Künstler Peter von Hess gemalte "Bouboulina an Bord der Agamemnon" bewundern kann. Der Sieg über die türkische Flotte und zugleich der Beginn des modernen Griechenlands wird alljährlich am 8. und 9. September als "Armata"-Festival aufwendig gefeiert, mit dem nachgestellten Seegefecht, Konzerten und einem opulenten Feuerwerk, das die Familie Niarchos der Insel spendiert.

Schon früh, in den fünfziger Jahren, setzte auf Spetses der Tourismus ein. Anfangs kamen vor allem wohlhabende Athener, die das stille, ländliche Leben schätzten. Erst nachdem der Reeder Stavros Niarchos 1962 das benachbarte Inselchen Spetsopoula gekauft hatte - sein ewiger Konkurrent Aristoteles Onassis legte sich im selben Jahr die ionische Insel Skorpios zu -, zogen Reiche und Prominente aus ganz Europa nach. Charles und Diana verbrachten hier ihre Flitterwochen und im August 2010 feierte Prinz Nikolaos von Griechenland, ein Sohn von Ex-König Konstantin, hier seine Hochzeit mit der Schweizerin Tatiana Blatnik. Zu dem Fest reiste die royale Verwandtschaft aus ganz Europa an. Konstantin hat eine Ferienvilla im gegenüberliegenden Porto Cheli auf dem Festland, wo auch König Willem-Alexander und Königin Maxima der Niederlande, der russische Präsident Putin und einige griechische Großreeder Sommerresidenzen besitzen. Besonders während der mehrtägigen Segelregatta im Juni ist es nicht ungewöhnlich, daß man "königlichen Hoheiten" begegnet, im Cafe nebenan oder im Grand-Hotel Possidonion, dessen Terrasse die Eigner der Luxus-Jachten bevölkern, die in der Marina ankern.

Das 1914 im Stil der Belle Epoque erbaute hochherrschaftliche "Possidonion" war eine Idee von Sotirios Anargyros, dem größten Sohn und Wohltäter der Insel. 1849 in eine einflußreiche, aber nach der Revolution verarmte Reederfamilie hineingeboren, verließ er noch als Jugendlicher die Insel in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft als das kleine Spetses sie ihm bieten konnte. Nach beruflichen Stationen in Konstantinopel, Rumänien, Ägypten, Marseille und London wagte er 1883 den Sprung nach New York, wo er es zu einem Millionenvermögen in der Tabakindustrie brachte. 1899 kam er zurück, forstete die halbe Insel mit 100 000 Aleppokiefern auf, legte die Strasse rund um Spetses an, baute das prächtige Grand-Hotel nach dem Vorbild des "Negresco" in Nizza und des "Carlton" in Cannes und gründete 1919 das Anargyrios- und Korgialenios College nach dem Vorbild englischer Internatsschulen wie Eton und Harrow. Wohl alle griechischen Prinzen, die Söhne von Ministern, Industriellen und Reedern besuchten diese Schule, die lange Zeit als die beste ganz Griechenlands galt. Sie bestand bis 1983. Seitdem dient die großzügige, aus fünf Gebäuden bestehende Anlage, die man besichtigen kann, internationalen Kongressen und als "Summer School". Sie hat einen eigenen Olivenhain, 9000 Hektar Wald, in dem sich eine Freilichtbühne versteckt, Sportanlagen, ein hübsches Cafe unter Bäumen und unterhalb des Geländes einen Strand. Hier ließ und läßt es sich sehr angenehm studieren.

Vom Massentourismus ist Spetses bisher verschont geblieben. Abgesehen von dem Luxushotel "Possidonion", das nach jahrelanger Renovierung 2009 wiedereröffnet wurde und gleich mehrere Auszeichnungen erhalten hat (London 2012: "Best Classic Boutique Hotel in the World", "Best Hotel Architecture Europe", ebenfalls London 2012 u.a.), gibt es zahlreiche Unterkünfte jeder Kategorie in kleineren individuellen Hotels oder umgebauten Kapitänshäusern. Ein beliebtes Ferienhotel ist das dem College benachbarte "Spetses", das einen kleinen Privatstrand hat.

Spetses hat den Vorteil, daß es nicht nur mit dem Schiff (mit dem Schnellboot gut zwei Stunden ab Piräus), sondern entlang der ostpeloponnesischen Küste vorbei an Epidauros und Nauplia auch auf dem Landweg erreichbar ist (rund zweieinhalb Stunden ab Athen). Dort setzt man von dem kleinen Hafen Kosta auf die Insel über (zehn Minuten). Das Auto muß allerdings auf dem Festland bleiben, der Autoverkehr ist stark reduziert. Stattdessen scheint jeder 4000 Spetsioten, die alle in dem einzigen gleichnamigen Ort wohnen, ein Moped oder einen Motorroller zu besitzen, die auf den schmalen, kurvenreichen Straßen überlaut knatternd an einem vorbeizischen und den Inselfrieden empfindlich stören.

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Athener Galerien

Die Akropolis besucht, in dem grossartigen Akropolismuseum, im Archäologischen Nationalmuseum und im Kykladenmuseum gewesen - die Antike also gewissenhaft abgehakt. Und was nun? Wie wäre es mit einem Kontrastprogramm, nämlich nach soviel Altertum einen Blick auf die zeitgenössische Kunst zu werfen? Athen ist nicht New York, ein dem Museum of Modern Art vergleichbares Haus gibt es hier - noch - nicht. Das neue Museum für zeitgenössische Kunst wartet nun schon seit Jahren auf seine Eröffnung im umgebauten Fix-Gebäude, es ist seit langem provisorisch untergebracht. Da es in der jetzigen Krise auf staatliche Finanzierung kaum hoffen kann (wobei das staatliche Engagement für Modernes schon vorher verschwindend gering war), ist es in der Geldbeschaffung mehr denn je auf private Kulturförderer angewiesen, um die laufenden Personal- und Betriebskosten zu decken. Jetzt soll es im Jahr 2016 seinen Betrieb aufnehmen. Man wird sehen. In der Zwischenzeit trösten wir uns mit den Glanzlichtern, die es tatsächlich auch in der Gegenwartskunst in Athen gibt, nämlich mehrere aufregende Privatsammlungen und ein Trupp einflußreicher Galeristen, denen großartige Ausstellungen und Inszenierungen gelingen.

Das sind zuallererst die Deste-Foundation von Dakis Ioannou, die Neon-Stiftung von Ioannis Daskalopoulos und der sammelnde Reeder und Investor George Economou, der für seine Kunstwerke 2012 ein eigenes hochmodernes Haus direkt hinter seinem Firmensitz in Maroussi baute und für Besucher öffnete. Ohne diese drei Großsammler geht in der Athener Kunstwelt gar nichts. Sie präsentieren die Werke weltberühmter Künstlerstars nicht nur im eigenen Haus (wie Ioannou und Economou), sondern auch an anderen Orten, z.B. im Kykladenmuseum, im Benakimuseum an der Piräosstraße oder in der Kommunalen Galerie. So hat George Economou 2012 ausgewählte Teile seiner Sammlung zum ersten Mal in der Kommunalen Galerie in Metaxourgio der Öffentlichkeit vorgeführt. Es war ein künstlerisches und zugleich soziales Ereignis, der Publikumsandrang war immens. Daskalopoulos hat kein eigenes Haus, aber er kreiert Ausstellungen speziell für bestimmte Orte wie im Jahr 2014 auf der Römischen Agora. Man achte also auf die Ankündigungen in den Programmheften und Zeitungen wie der deutschsprachigen Griechenland Zeitung, um solche Ereignisse nicht zu verpassen.

Es gibt drei Kunstorte in Athen, in denen sich die meisten Galerien niedergelassen haben: das zentrumsnahe Kolonaki, das Viertel Thission unterhalb der Akropolis und die ärmeren, einander benachbarten Viertel Metaxourgio und Kerameikos. Beginnen wir mit Kolonaki. Nur fünf Minuten vom Sintagmaplatz entfernt befindet sich in der Merlinstrasse (Odos Merlin) eine zwar sehr kleine, aber stets mit den Werken der weltweit teuersten Maler-Ikonen oder vielversprechender Jung-Stars bestückten Galerie des Kunsthändler-Tycoons Larry Gagosian, der seinen Einfluß inzwischen auf fünfzehn Niederlassungen in sieben Ländern auf drei Kontinenten ausgeweitet hat. Gerade eben - Oktober 2015 - hat er seine dritte Filiale in London eröffnet, im feinen Viertel Mayfair.

Am von hier aus fünf Minuten entfernten Kolonakiplatz ist eine der ältesten Athener Galerien, Zoumboulakis, zu Hause. Zoumboulakis wurde schon 1912 gegründet und stellt vor allem griechische Künstler aus, die bereits international bekannt sind, etwa Yannis Moralis, Yannis Psychopaidis, Takis und Vlassis Caniaris. In der nahen Odos Kriezotou 7 hat Zoumboulakis eine Zweigstelle eingerichtet, ein Ladengeschäft, in dem Multiples, kleinere Kunstobjekte, Grafik und Poster beliebter griechischer Künstler, z.B. von Alekos Fassianos, verkauft werden. Ebenfalls in der Kriezotou - neben dem Geschenkeladen des Benakimuseums, wo man ebenfalls hübsche kleine künstlerische Arbeiten kaufen kann - hat die Frissiras-Galerie eröffnet, die sich um griechische und internationale Künstler kümmert. (Wer sich für die Klassische Moderne interessiert, sollte die ständige Ausstellung der Werke von Nikos Hadjikyriakos-Ghikas besuchen, einem der bedeutendsten griechischen Künstler des 20. Jahrhunderts, der - 1906 geboren - im Haus daneben bis zu seinem Tod 1994 lebte und arbeitete.) Die kurze Kriezotou-Straße ist eine kleine Kunstmeile geworden.

Eine feste Größe im Athener Kunstbetrieb ist die seit 1995 bestehende Kalfayan-Galerie (Odos Haritos 11), die sich auf die griechische, balkanische sowie die zeitgenössische Szene der MENASA-Region (Middle East North Africa South Asia) spezialisiert hat. Einer dieser Künstler ist der 1973 in Damaskus geborene Hair Sarkissian, dem schon mehrere Aussstellungen gewidmet waren. Kalfayan ist es ein Anliegen, die griechische Kunst voranzutreiben und die lokalen Künstler, die von den internationalen Strömungen noch immer weitgehend abgeschnitten sind, auch wenn sich dank privater Initiativen in den letzten Jahren einiges getan hat, über Griechenland hinaus bekannt zu machen. So unterhält sie gemeinsame Projekte mit anderen europäischen Galerien, z.B. Esther Schipper in Berlin, arbeitet zusammen mit Museen und Kunsteinrichtungen wie der Tate Modern in London, der Kunsthalle Wien, dem New Museum in New York, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Außerdem ist sie ständiger Gast auf so bedeutenden Kunstgroßereignissen wie den Biennalen von Venedig und Istanbul, die trotz der Biennalen-Inflation - es gibt inzwischen 105 - mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, von Tampere, Art Brussels, Art Basel Hongkong, Art Basel Miami (wo sie 2014 Hair Sarkissian zu Aufmerksamkeit verhalf), The Armory Show in New York und anderen.

Überzeugende Veranstaltungen gelingen immer wieder Eleni Koroneou (Dimofontos 7, Thissiou-Viertel). Seit 1989 macht sie die Athener mit bedeutenden internationalen Künstlern bekannt, aber ihr Galeristenherz schlägt auch für die jüngeren griechischen Maler, denen sie erfolgreich zu angemessener Anerkennung verhilft. In ihrem Programm sind einige der wichtigsten Künstler der Gegenwart vertreten, darunter Helmut Middendorf, Dieter Roth, Martin Kippenberger, Michel Majerus, Christopher Wool, John Bock, Liam Everett, Yorgos Sapountzis, die sie in regelmäßigen Solo- und Gruppenausstellungen - beispielsweise 2015 in "Family and Friends" - Revue passieren läßt. Allen begegnet man in bedeutenden Museen und Ausstellungshäusern weltweit oder sie waren Teilnehmer an der Documenta und den Biennalen in Venedig und Istanbul. Der in den achtziger Jahren zu den "Jungen Wilden" gehörende Helmut Middendorf beispielsweise hatte allein 2015 drei vielbeachtete Auftritte: im Frankfurter Städel ("Die 80er. Figurative Malerei in der BRD"), im Münchner Haus der Kunst ("Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland") und im Museo del Novecento am Domplatz in Mailand. Auch Eleni Koroneou nimmt an namhaften Kunstmessen teil, darunter der Art Brussels, Art Cologne, Arco Madrid, Art Basel und Art Basel Miami.

Noch etwas älter als Koroneou ist die nahe Galerie Bernier/Eliades (Eptachalkou 11), die 1977 gegründet wurde und seitdem die zeitgenössische Kunst pflegt. Jean Bernier und Marina Eliades zeigen vor allem die Werke griechischer Künstler, die im Ausland Karriere gemacht haben, darunter Alexis Akrithakis, dessen Anfänge in Berlin liegen, und Ioannis Kounellis, der seit Jahrzehnten in Rom lebt und ein Hauptvertreter der Arte Povera ist. Sie bringen aber auch die westliche Kunstwelt in die Hauptstadt: das Künstlerpaar Gilbert and George, Richard Long, Mario Merz sowie die Deutschen Jonathan Meese, Daniel Richter, Ulrich Rückriem und Thomas Schütte, dem sie 2015 eine Einzelschau widmeten. Bernier/Eliades arbeiten ebenfalls mit anderen europäischen Galerien zusammen und nehmen an den großen Messen teil, u.a. der Art Basel, noch immer die bedeutendste Kunstmesse weltweit.

Der Standortvorteil der beiden ärmeren Stadtviertel Kerameikos und Metaxourgio sind verwaiste Häuser und bezahlbarer Wohnraum, Anzeichen für eine Gentrifizierung sind nur wenige auszumachen. Junge Kreative aus ganz Europa und den USA strömen hierher, seitdem die Mieten vor allem in New York und London ins Astronomische geschnellt sind. Sie bereichern die griechische Kunstszene, lockern verfestigte traditionelle Grenzen, machen sie internationaler. In den versteckten Studios, Laden- und Werkstattateliers schlummern vielleicht die Talente von morgen und der Markt giert danach, sie zu entdecken. Aber noch ist kommerzieller Erfolg den wenigsten beschieden.

Abgesehen von der staatlichen Kommunalen Galerie am Avdiplatz, deren Sammlung vor allem Werke griechischer Maler des 19. Jahrhunderts umfasst, haben sich hier zwei Athener Galerien niedergelassen, Rebecca Camhi (Leonidou 9) und vor allem The Breeder (Iasonos 45), deren Eingang - hinter einer schweren Stahltür ohne jeden Hinweis, was einen dahinter erwartet - man leicht übersehen kann, zumal man keinen Kunsttempel hier vermutet, denn die stille Iasonos-Straße gleicht einem Potemkischen Dorf: Man glaubt sich in eine Idylle versetzt, spaziert an kleinen zweistöckigen Häusern mit schönen klassizistischen Fassaden und kunstvollen schmiedeeisernen Balkonen vorbei, und dann der Schock: dahinter ist nichts. Es sind Ruinen.

The Breeder, 2002 von Stathis Panagoulis und Jorgos Vamvakidis gegründet, befindet sich in einer ehemaligen Eisfabrik aus den siebziger Jahren. Den hochmodernen Innenraum gestaltete der Architekt Aris Zambikos, der dafür einen Preis bekam. Auch The Breeder verfügt über gute internationale Kontakte, vertritt westeuropäische ebenso wie griechische Künstler, darunter Vlassis Caniaris, der momentan überall hoch im Kurs steht, und die jüngere Generation, etwa Hope, der als Strassenkünstler in Athen begann, oder Angelo Plessas, der 2015 den Deste-Preis gewann. Zu The Breeder gehört auch das poppige Lokal "Breeder Feeder", das Stathis Panagoulis nicht so sehr als Restaurant, sondern mehr als Projektraum sieht. Hier isst man immer wieder anders - vegetarisch, vegan, japanisch, peruanisch - je nach Küchenchef, der, so ist das Konzept, regelmäßig wechselt.

Rebecca Camhi besteht seit 1995, 2008 hat sie ihr jetziges Domizil, das kleine neoklassizistische Gebäude in Metaxourgio (Leonidou 9) bezogen. Von Anfang ihres Bestehens an vertrat sie so prominente Künstler wie Nan Goldin, Julian Opie, Rita Ackermann, Bill Owens und andere sowie Takis, Angelo Plessas, Nikos Alexiou und die in New York und Athen lebende Deanna Maganias, die das Athener Holocaust-Denkmal (oberhalb des antiken Kerameikos-Friedhofs) schuf. Auch Camhi ist aktiv im internationalen Austausch tätig und nimmt an allen wichtigen Messen wie der Londoner Frieze, Arco, Art Basel, Art Brussels, der New Yorker The Armory Show und der jährlich stattfindenden Messe Art Athina teil, die 1994 aus einer Privatinitiative einheimischer Galeristen hervorging und einen guten Überblick über das griechische Kunstschaffen vermittelt. So gut wie alle Athener Kunsthändler sind regelmäßig dort vertreten, das Ausland bleibt - noch - eher fern. Auch die 2005 gegründete Athener Biennale wird außerhalb Griechenlands nicht so richtig wahrgenommen. Das könnte sich mit der 5. Biennale 2015 ändern, die nicht nur wie üblich einige Monate laufen wird, sondern - gedacht als Ideen- und Experimentierwerkstatt - zwei Jahre lang, bis 2017. Dann beginnt die Documenta 14, die diesmal nicht wie die vergangenen 70 Jahre nur in Kassel stattfindet, sondern als gleichberechtigten Ausstellungsort die griechische Hauptstadt gewählt hat. Dort startet sie im April, zwei Monate eher als in Kassel, wo sie Anfang Juni eröffnet wird. Die Weltkunstausstellung steht unter dem Motto "Von Athen lernen". Sie könnte Athen zu einem kräftigen Schub verhelfen.

Athen ist ein aufregender Ort für Gegenwartskunst geworden, es ist noch nicht so glatt und kommerziell wie an anderen Orten. Natürlich wird der kulturelle Vorsprung Westeuropas nicht so schnell aufzuholen sein, zumal die staatliche Unterstützung fehlt. Man muß das bedauern, denn es würde sich rechnen. Aber die Athener Kunstwelt ist nicht mehr gänzlich isoliert. Und eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

Sonntag, 30. August 2015

Euböa (Evia) - Schweizer Archäologen graben seit 50 Jahren Eretria aus

Das 175 km lange Euböa, griechisch Evia, ist nach Kreta die zweitgrösste griechische Insel. Trotz idealer Wandermöglichkeiten in den gebirgigen Regionen im Inselinnern - der Dirfis erreicht eine Höhe von fast 1800 Metern -, tiefer Schluchten, Wasserfällen, Heilquellen, dichter Pinien- und Platanenwälder, die bis an die kilometerlangen Sandstrände reichen, hat sie noch immer erstaunlich wenig Tourismus. Die meisten Besucher sind Griechen, vor allem Athener, die an den Wochenenden kommen, denn sie ist von der Hauptstadt nur etwa 80 Kilometer entfernt. Den modernen Hauptort Chalkis oder Chalkida trennt vom Festland lediglich eine flußbreite Meerenge, der Euripos, über den man schon in der Antike, um 410 v. Chr., eine erste Brücke spannte. Sie wurde im Laufe der Zeit durch einige Neubauten ersetzt, darunter eine Konstruktion Mitte des 19. Jahrhunderts, die König Otto 1854 einweihte; die heutige Brücke stammt aus dem Jahr 1961. Man erreicht Chalkida mit Auto, Bahn oder Bus von Athen in gut einer Stunde. Von seiner breiten stets belebten Hafenpromenade, an der fast alle Tavernen und Cafes liegen, blickt man hinüber zur türkischen Festung Karababa auf der Festlandsseite, unterhalb der es auch ein kleines Strandbad gibt. Außerdem hat es eine alte Moschee, eine Synagoge, die einstige Hauptkirche der Venezianer Agia Paraskevi und ein Archäologisches Museum zu bieten.

Zum interessantesten Inselort, der Küstenstadt Eretria, heute ein beliebter und im Hochsommer recht belebter Ferienplatz, setzt die Fähre vom Festland, von Oropos, über den schmalen Golf. In ihrer Blütezeit, im 8. Jahrhundert v. Chr., spielten die beiden bald miteinander konkurrierenden Stadtstaaten Chalkis und Eretria eine überragende Rolle in der frühen griechischen Kolonisation. Sie gründeten Kolonien auf der Chalkidike, auf Korfu, in Süditalien (z.B. Pithekussai, das heutige Ischia) sowie an der adriatischen Küste und trugen wesentlich zur Verbreitung der griechischen Zivilisation bei. Ihre starke Handelsflotte war die Basis reger Wirtschaftsbeziehungen im gesamten Mittelmeerraum und führte zu Niederlassungen auf Zypern, in Syrien und auf mehreren ägäischen Inseln.

Die wechselvolle Geschichte Eretrias läßt sich bis zu seiner Eroberung durch die Römer 198 v. Chr. lückenlos verfolgen. Von diesem Schlag und der dann endgültigen Zerstörung durch die Römer 90 Jahre später konnte sich die Stadt nicht mehr erholen. Sie verlor jegliche Bedeutung, kulturell wie wirtschaftlich, wurde im 6. Jahrhundert gänzlich verlassen, verödete und fiel dem Vergessen anheim.

Das heutige Eretria (oder Nea Psara, wie es von 1849 bis 1961 hieß) wurde 1834 gegründet und nach einem Entwurf des Schinkel-Schülers Eduard Schaubert angelegt, der zusammen mit seinem Studienfreund Stamatios Kleanthes zwei Jahre zuvor den Plan für die Neugestaltung Athens erarbeitet hatte. Griechenlands erster König, Otto I. aus dem bayerischen Hause Wittelsbach, verfolgte die Idee, ruhmreiche Städte des alten Hellas wiedererstehen zu lassen, wie Athen, Piräus, Sparta und eben auch das einst machtvolle Eretria. Der leidenschaftliche Philhellene hatte erfaßt, was das Wesen der europäischen Städte und der griechischen insbesondere ausmacht und was noch die vom Europäischen Rat der Stadtplaner verfaßte Neue Charta von Athen 2003 festhält: Die Siedlungen des Altertums "entwickelten sich zu strukturierten Gessellschaften mit einer Vielzahl von Fertigkeiten, sie steigerten die Produktion und wuchsen zu mächtigen Zentren der Zivilisation heran. Im Vergleich mit städtischen Strukturen in vielen anderen Teilen der Welt zeichnen sich europäische Städte durch eine lange Entwicklungsgeschichte aus, die die spezifischen Eigenarten der politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen der jeweiligen Staaten deutlich widerspiegeln. Es ist diese Geschichte und Vielfalt, die die europäischen Städte unterscheidet. Im Gegensatz dazu werden die Städte des 21. Jahrhunderts immer schwerer zu unterscheiden sein." Die Charta 2003 ist eine Nachfolgerin der Charta von Athen 1933, die Le Corbusier initiierte.

Doch der Wiedererweckung Eretrias war anfangs kein großer Erfolg beschieden. Schon 1844, als der Altertumsforscher Ludwig Ross mit König Otto die Stadt besuchte, war sie erneut verlassen, wegen Malariagefahr. Erst als es 1922 gelang, das versumpfte Stadtgebiet trocken zu legen, setzte wieder ein allmählicher Zuzug ein. Einige klassizistische Häuser aus der Gründungszeit lassen noch den Charme des 19. Jahrhunderts erahnen.

Erste Grabungen nahmen seit 1885 griechische Archäologen vor. Als der Aufschwung Eretrias als Ferienziel und der gleichzeitig einsetzende Bauboom die unter der modernen Stadt liegenden antiken Überreste gefährdete, lud der griechische archäologische Rat Karl Schefold, Professor für klassische Archäologie der Universität Basel und Mitbegründer des Basler Antikenmuseums, ein, sich an den Ausgrabungen zu beteiligen. Seitdem - 1964 - erforschen Schweizer Archäologen in Zusammenarbeit mit der griechischen Behörde das ausgedehnte Stadtgebiet, anfangs unter der Leitung Schefolds, heute unter der Karl Rebers, der sich mit der Arbeit "Die klassischen und hellenistischen Wohnhäuser im Westquartier von Eretria" habilitierte und an der Universität von Lausanne lehrt. Eretria ist noch lange nicht freigelegt und erforscht. Es ist heute neben einer kleineren Grabung auf dem Peloponnes das zentrale Projekt der Schweizerischen Archäologischen Schule in Griechenland.

Um einen Überblick über das ausgedehnte Stadtgebiet zu erhalten, sollte man zur fast fünf Kilometer langen und mit Schutztürmen ausgerüsteten Akropolismauer hochsteigen, die wohl um 400 v. Chr. zu datieren ist. Hinter ihrem bollwerkartigen frühklassischen Westtor öffnet sich das sogenannte Westquartier, wo man vornehme Wohnhäuser mit Atriumhöfen und Gräberstraßen freilegte. Ein 1977 hier gefundenes Kieselmosaik ist unter einem Schutzdach zu besichtigen. Weitere Mosaiken aus der römischen Zeit wurden erst in den letzten Jahren entdeckt. Das eindrucksvollste Gebäude ist das Theater, das wohl ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammt und in seiner Anlage dem Dionysostheater in Athen ähnelt. Gleich daneben liegen die Ruinen des Dionysostempels. Weitere Heiligtümer sind das Iseion, der Tempel der ägyptischen Göttin Isis, und der spätarchaische Tempel des Apollon Daphnephoros. Aus seinem Giebelfeld stammt der Torso der Athena von Eretria (um 500 v. Chr.), der heute im Museum steht. Von dem nur aus Schriftquellen bekannten Artemistempel konnte man im Nachbarort Amarinthos seit 2007 die Fundamente freilegen.

Im 1962 eröffneten Ortsmuseum sind die meisten der hier gemachten Funde ausgestellt: sehr viel Keramik, zumeist Grabbeigaben, Grabstelen und Weihereliefs sowie Inschriften aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert, die zu den frühesten Zeugnissen der griechischen Schrift gehören. Viele Fundstücke sind über die Museen der ganzen Welt verstreut, manche sind auch im Besitz des Athener Nationalmuseums. 2010 wurden fast 500 Funde aus Eretria, die die Blütezeiten der antiken Stadt wiederaufleben lassen, unter dem Titel "ausgegraben!" im Antikenmuseum Basel gezeigt. Dieselbe Ausstellung war zuvor im Athener Nationalmuseum zu sehen - daß sie danach ins Ausland, in die Schweiz, ging, war eine "Ehre", wie sie "bis jetzt noch keinem der insgesamt 17 archäologischen Institute in Griechenland zuteil geworden" ist (NZZ vom 23.9.2010). Der Besucher von Eretria hat die Möglichkeit, direkt vor Ort alles selbst in Augenschein zu nehmen, inklusive der neuesten Funde.

Dienstag, 11. August 2015

Die 56. Biennale Venedig 2015 . Maria Papadimitriou im griechischen Pavillon

Die diesjährige Biennale versammelt 89 Länderpräsentationen und 136 Künstler. Okwui Enwezor, Leiter des Hauses der Kunst in München und Kurator der Gesamtschau, der schon die Documenta 2002 in Kassel verantwortete, hatte das Motto "All the world's futures" ausgegeben, das wohl nur auf den ersten Blick optimistisch schien. Man durfte auf aktuelle Kunst gespannt sein, die politische und soziale Positionen ins Zentrum ihrer Arbeit stellt: die Globalisierung und ihre Folgen für den einzelnen Menschen, die Instabilität der Welt, die Verfolgung, Kriege und Flüchtlingsströme nach sich zieht sowie Existenzkampf und Armut auslösende Krisen auch in Industriestaaten und deren Auswirkungen auf die Gesellschaften, ferner andere drängende Fragen, etwa im Natur- und Umweltschutz.

Diesem Konzept werden relativ viele Präsentationen gerecht, eine positive Sicht auf die Zukunft bleibt jedoch meistens aus, selbst in dem mit "Hope!" betitelten Pavillon der Ukraine. Sehr viel Hoffnung gibt es dort zur Zeit tatsächlich nicht, der Titel ist wohl sarkastisch gemeint oder eher der Schrei nach einer besseren, friedlicheren Welt. Manche Künstler gehen das Thema selbstironisch an wie Filip Markiewicz. Im luxemburgischen Pavillon in der Ca' del Duca stellt er unter dem Zitat von Oscar Wilde: "The world is a stage but the play is badly cast" das "Paradiso Lussemburgo" vor, ein Paradies der Steuerzahler oder wohl eher Steuervermeider, in dem auch Jean-Claude Juncker und Yannis Varoufakis ihren Auftritt haben. Aserbaidschan präsentiert sich an zwei Orten, im Palazzo Lezze sowie in der Ca' Garzoni, dem grösseren und interessanteren Ausstellungsort, in dem sich längst etablierte Künstler wie Tony Cragg, Julien Opie, Andy Warhol, Erwin Wurm und viele andere mit Umwelt- und Klimafragen auseinandersetzen. Andreas Gursky dokumentiert den weltweiten Kapitalismus in seinen Fotografien von der "Tokyo Stock Exchange", der Tokioter Börse, und im Zentrum des deutschen Pavillons nimmt sich der Film "Out on the Street" von Philip Rizk und Jasmina Metwaly ägyptischer Arbeiter an, deren Fabrik weit unter Wert an private Investoren verkauft wird; die Fabrik wird abgerissen, die Arbeiter verlieren ihre Existenz. Ob wohl viele Besucher die Zeit und die Geduld aufbringen, sich den 70minütigen Film anzuschauen? Auch in der Überfülle an Kunstwerken in den Hallen des Arsenale
geht vieles unter.

Dies ist eine kurze Einstimmung auf die Biennale. Krisen sind überall, auch in Venedig gibt es derzeit kaum ein anderes Thema. Die Kunst scheint von der Not zu profitieren.

Den Niedergang anhand eines privaten Schicksals führt uns Maria Papadimitriou im griechischen Pavillon in den Giardini vor Augen. "Why look at animals? Agrimika" nennt sie ihre Installation. Agrimika ist eine Ableitung von Agrimi, der nur auf Kreta beheimateten Wildziege. Gewöhnlich wird Agrimi als Bezeichnung für Wildtiere verwendet, die zwar mit dem Menschen koexistieren können, sich aber nicht domestizieren lassen, etwa Bären und Wölfe oder auch Frettchen und Dachse.

Papadimitriou hat den Laden und die Werkstatt eines Pelzhändlers aus Volos Stück für Stück in den Pavillon verpflanzt - einschließlich alter verblichener Zeitungsartikel und Familienfotos, Kinderzeichnungen, angejahrter Notizzettel, ausgestopfter Tiere und Bärenfellen. Dimitris Ziogos, der jetzige Eigentümer, nahm 1947 eine Stelle als Verkäufer bei seinem Vorgänger an und führte das Geschäft nach dessen Tod übergangslos weiter. Das verstaubte, altmodisch-ärmliche Geschäft war lange Jahre ein florierendes Unternehmen. In dem begleitenden Video erzählt er aus seinem langen Arbeitsleben und wie er die Zeitläufte - Krieg, Bürgerkrieg, Diktatur, Unheil und Verzweiflung, aber auch die kleinen Freuden des Alltags - erlebt und überlebt hat. Er beschreibt den schleichend einsetzenden Niedergang - lange vor der jetzigen Krise -, wie in den neunziger Jahren ein Pelzgeschäft nach dem anderen schliessen musste, bis nur noch eine Färberei und sein Laden übrig blieben. Er spricht ohne Larmoyanz, altersweise, in sich ruhend. Es ist ein langes bewegendes Leben, das den Besucher in leiser Wehmut zurücklässt.

Die Installation Maria Papadimitrious nimmt keinen expliziten Bezug auf die jetzige Krise in Griechenland. Das wäre zu banal. Man darf das Werk darauf beziehen, muß es aber nicht. Jeder Besucher soll sich sein eigenes Bild machen.

Die 1957 in Athen geborene Künstlerin gehört zu den erfolgreichsten griechischen Künstlerinnen der Gegenwart. Sie lebt und arbeitet in Athen und Volos, wo sie Professorin für Kunst und Umwelt an der Universität von Thessalien ist. 2003 gewann sie den Deste-Preis für zeitgenössische griechische Kunst für ihre kontinuierliche Arbeit mit sozialen und kulturellen Belangen, die das gegenwärtige Leben analysieren, wie das TAMA-Projekt (Temporary Autonomous Museum for All), für das sie ausgezeichnet wurde. Mit diesem Projekt repräsentierte sie Griechenland 2002 auf der Biennale in Sao Paulo. Ihre Kunst wird weltweit in renommierten Museen und Galerien ausgestellt, darunter in London, Madrid, Rom, Brüssel.

Die Biennale dauert vom 9. Mai bis zum 22. November 2015. Die meisten Länderpavillons befinden sich in den Giardini, etwa ein Drittel in den Hallen des Arsenale und die übrigen Ausstellungen verteilen sich auf Häuser oder Palazzi über die Stadt.